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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 101

Text

BRYK: DIE BEIDEN PFADE.

schwung und dessen Zusammenbrüche
ich alle kenne, all meine Last ist ab-
gelegt. Würdigen wir ohne Schwindelei
den Umfang meiner Unschuld.

Ich werde nicht mehr fähig sein,
die Wiederstärkung einer Bastonnade
zu verlangen. Ich glaube mich nicht
mehr eingeschifft zu einer Hochzeit
mit Jesus Christus als Schwieger-
vater.

Ich bin kein Gefangener meiner
Vernunft. Ich sagte: Gott. Ich will die
Freiheit im Heil: wie sie verfolgen?
Die frivolsten Gelüste haben mich ver-
lassen. Kein Bedürfnis mehr nach
Hingebung, noch nach göttlicher Liebe.
Ich bedauere das Jahrhundert der
empfindsamen Herzen nicht. Jeder hat
seine Vernunft, Verachtung und Barm-
herzigkeit; ich behalte meinen Platz
an der Spitze dieser himmlischen Leiter
des richtigen Urtheils.

Was das gesicherte Glück betrifft,
Dienstbote oder nicht Nein, ich
kann nicht. Ich bin zu zerstreut, zu
schwach. Das Leben blüht durch
Arbeit, alte Wahrheit: bei mir — mein
Leben ist zu wenig schwer; es fliegt
davon und fliegt weit über der Thätig-
keit, diesem theuren Punkt der Welt.

Wie ich eine alte Jungfer werde
aus Mangel an Muth, den Tod zu lieben!

Wenn Gott mir die himmlische
Ruhe bewilligte, die luftige, das Gebet
— wie die alten Heiligen. — Die
Heiligen! Starke! Die Anachoreten,
Künstler, wie’s keine mehr gibt.

Ununterbrochene Farce? Meine
Unschuld macht mich weinen. Das
Leben ist die Farce, durch alle zu
führen.

Genug! Nun die Strafe. — Marsch!

Ach, die Lungen brennen, die
Schläfen dröhnen! Die Nacht rollt in
meinen Augen, bei dieser Sonne! Das
Herz die Glieder

Wo geht’s hin? Zum Kampf? Ich
bin schwach! Die Anderen gehen vor.
Die Werkzeuge, die Waffen die
Zeit!

Feuer! Feuer auf mich! Da! Oder
ich ergebe mich. —

Feiglinge!

Ah!

Ich werde mich daran gewöhnen.

Das wird das Leben eines Fran-
zosen sein, der Weg der Ehre!

DIE BEIDEN PFADE.
Von OTTO BRYK (Wien).

PHILARITHMOS. KOSMOTHEOROS.

Philarithmos: Wie hast du dich
verändert, Lieber, seit ich dich zuletzt ge-
sehen habe! Wie anders blickest du umher!

Kosmotheoros: Die Götter haben
mir den Blick nach innen gewendet.

Philarithmos: Du erfreuest dich nicht
mehr der Pracht hier außen, und statt
ruhig zu forschen, wie du es bisher thatest,
quälst du deinen stolzen Geist mit un-
sinnigen Fragen.

Kosmotheoros: Mehr erfreut mich
die Pracht, von der du redest, als früher;

und unsinnig erscheint mir nichts, dem
ich nachsinne.

Philarithmos: Mir aber und meinen
Freunden missfällt sehr, was du jetzt
treibst. Die Klarheit deiner Schriften ist
dahin; dunkle, dichte Nacht lagert über
deinen Pergamenten. Du sprichst nicht
mehr von den Dingen, sondern von ihren
»Ideen«, nicht in Schilderungen, sondern
in Gleichnissen. Und allem, was geschieht,
legst du etwas unter: »Die Blumen blühen,
weil sie zur Vollendung streben, und wenn
ein Stein zur Erde fällt, so ist dies sittlich
oder unsittlich.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 101, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-05_n0101.html)