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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 102

Text

BRYK: DIE BEIDEN PFADE.

Kosmotheoros: Und weshalb legst
du es mir so ungünstig aus, dass ich der-
gleichen schreibe und sage, dass ich den
Blumen solches zuspreche, den Sternen
solches, und den Gesteinen wieder anderes?

Philarithmos: Dem Rufe der Lehre
schadest du damit, o Kosmotheoros! Denn
vortrefflich sagt ein erleuchteter Weiser,
dass die Lehre nicht für den Haufen ge-
höre. Siehe! deshalb haben wir so treff-
liche Kunstworte und kennen die Gesetze
der Messkunst und der Denkkunst, die
nicht leicht Einer aus sich selber heraus
begreift. — Denn der Pöbel flieht jedes
Gesetz und hasst es aus seiner Seele.
Daher, wenn er die Natur-Erscheinungen
sich auslegen will, so greift er stets zu
dem Übernatürlichen, und glaubt, dass
sich morgen die Erde spalten werde,
wenn er heute gestohlen hat. Und weil
dieses Gelichter zu faul ist, um seine Pflicht
zu erfüllen, so ersinnt es sich Kobolde,
die unter der Erde schlafen, und Dämonen
in den Lüften, die für sie arbeiten. Und
dann beleben sie die Steine und die
Pflanzen, und was dergleichen Narrens-
possen mehr sind. Solchem thörichten Volk
aber gebürt keine Beachtung. Anders aber,
wenn ein Freund und tiefer Kenner der
herrlichen Lehre Dinge aufschreibt, die
der Meinung des großen Haufens nahe-
kommen und sich verleiten lässt, über den
Himmel und die Erde zu reden, wie die
Weiber an der Kunkel. Lässest du dich
also vernehmen, o Theurer — dann
weiß ich nicht, ob der weltberühmte
Kosmotheoros spricht oder meine alte
Amme.

Kosmotheoros: Eine kluge Amme
haben dir, o Philarithmos, deine süßen
Eltern auserlesen!

Philarithmos: Braucht es vieler
Klugheit hiezu, um solche Sätze zu ver-
stehen, wie: »Jede Schuld muss sich
rächen«; oder: »Die Forschung ist ziellos«
und andere dergleichen? Was sonst in
deinen Werken enthalten ist, erregt wohl
meinen Beifall, aber dieses Spielen mit
dem »Übernatürlichen«, mit dem »Ge-
heimnisvollen«, mit dem »Ahnungs-
schweren« muss ich strenge rügen.

Kosmotheoros: Und in welcher
Art wünschest du wohl, dass wir für die

Lehre thätig seien? Soll dieses alles, was
du eben rügtest, fernbleiben und nichts
anderes in den Schriften aufgezeichnet
werden, als was wir mit den Sinnen un-
mittelbar erblicken, so kann ich den
Nutzen dieser Aufschreibungen für die
Veredelung unseres Gemüthslebens nicht
mehr absehen.

Philarithmos: »Mit der Veredelung
unserer Gemüthskräfte« hat die Lehre
und die Kunde nichts zu schaffen; sondern
was wahr ist und jederzeit durch viele
Zeugen erhärtet werden kann, das schreiben
wir auf, damit es auf Andere übergehe. Diese
wieder mehren den Schatz durch Beob-
achtungen, die sie theilweise selbst ange-
stellt, theilweise durch glaubwürdige
Männer erfahren haben. Und je mehr wir
solcher wahrer Thatsachen zur Hand
haben, desto reicher dünket uns die Lehre.

Kosmotheoros: Und mehr strebt
ihr nicht an, als immerfort neue Beobach-
tungen anzusammeln? Oder verbindet ihr
noch einen andern Zweck damit? Heißet
jene Lehre die bessere, die reicher ist an
Beobachtetem, oder jene, die uns bei
wenigem Gegebenen vieles sagt?

Philarithmos: Wie man mit
»Wenigem vieles« sagen kann, das ver-
stehe ich nun wieder nicht. — Was aber
den Zweck unserer mühevollen For-
schungen und Beobachtungen anbetrifft,
so ist meine Anschauung diese: Siehe,
o Freund, alles, was rings um uns ist,
das besteht aus vielen Kügelchen

Kosmotheoros: Aus kleinen oder
großen Kügelchen?

Philarithmos: Aus ganz unendlich
kleinen, die, weil sie so einzig klein sind,
dass sie niemand, auch nicht in Gedanken,
weiter zu zertheilen vermöchte, trefflich
von den Weisen unseres Landes als die »un-
theilbaren Kügelchen« bezeichnet werden.
Diese Kügelchen nun gehorchen nur den
einfachsten Kräften, und wir sind davon
überzeugt, dass wir nur die Bahnen und
die Lage dieser unendlich kleinen Kügelchen
zu kennen brauchen, um alles in der
Welt erklären zu können. Deshalb nun be-
obachten wir alles so genau und emsig,
um es mit dieser Lehre schön in Einklang
zu bringen. Deshalb auch wollen wir nicht
hören, wenn Einer von Dingen spricht,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 102, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-05_n0102.html)