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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 104

Text

BRYK: DIE BEIDEN PFADE.

ein kleiner Theit aller Lehren und Wissen-
schaften den nützlichen Künsten dient.
Wenn nun auch vieles im Laufe der
rollenden Jahre ihnen zugute kommt, so
wird doch immer ein sehr großer Theil
zurückbleiben, der sich zur Veränderung
des Bestehenden nicht wird herbeiziehen
lassen. Auch wirst du mir darin beipflichten,
wie ich glaube, dass es zu erforschen
Unendliches gibt, zu verändern aber nur
Endliches; so dass, während sich die
Bücher und die Bibliotheken häufen, wir
eigentlich nicht wissen, was wir mit den
kostbaren Schätzen anzufangen haben.

Philarithmos: Dieses wohl.

Kosmotheoros: Nimmermehr aber
wirst du zugeben wollen, dass alles Denken
und Forschen nur müßiges Spiel sei und
wertlos.

Philarithmos: Wie könnte ich dies?

Kosmotheoros: Wohlan, so gewähre
mir noch eine Weile deine Aufmerksam-
keit: Hast du mir gerne zugestanden,
dass vieles Unerklärbare bleibt unter dem
Siebe der Gedanken und dass es Ziel
aller Lehren und Wissenschaften sei, so-
weit es angeht, das Elende und das
Jammervolle, das auf der Erde angetroffen
wird, zu verringern — so wirst du mir
vielleicht noch zugestehen, dass Manche
unter der Fülle des Unerklärbaren leiden.
Und nicht wenig bedrängt sie dieser Zu-
stand; denn sie können nicht weiter-
dringen und wollen ihren Weg nicht
wenden; also fühlen sie sich unglücklicher,
als zuvor, da sie von gar nichts wussten.
So müsste man Jenen einen trefflichen
Weisen nennen, der diese zu trösten
wüsste und ihnen das heitere, ruhige
Gemüth zurückgäbe. Könnte solches nun
Einer, der mit sonst rühmenswertem Eifer
manches Neue entdeckt, aber das Entdeckte
bloß aneinanderreiht, und so die Reihe
der unbeantworteten Fragen nur vermehrt,
nicht verringert?

Philarithmos: Du verlangst also,
dass nicht weiter beobachtet werde oder
nachgespürt, sondern wir sollen, wie
die Weiber am Feldbrunnen, nur immer
Altes und Bekanntes wiederkäuen?

Kosmotheoros: Nicht das Nach-
forschen selbst tadle ich — wie könnte
ich das, ohne mich selbst der schimpf-

lichsten Sache anzuklagen — sondern die
Art des Nachforschens. Nicht wieviel
Einer weiß, sondern wie er es versteht,
darnach frage ich. Gibt es nun irgendwo
einen tiefernsten Mann, der das Wenige,
das wir von der Welt wissen, derart mit-
zutheilen weiß, dass er alles Aussagbare
aussagt, das Nicht-Aussagbare aber aus
der Natur unseres Geistes und unseres
ganzen Wesens herleitet, so ist mir ein
solches vor allen übrigen zu loben. Denn
nicht leicht ist es, in jedem Falle die
Grenzen des Wissbaren scharf anzugeben.
Aber noch mehr gilt mir der Forscher,
der mich mit sicherer Hand durch das
Chaos leitet, und mich, so ihm zu leiten
versagt ist, zum Ausruhen nach gefahr-
voller Wanderung ladet. Er stößt mich
nicht zurück in die Wirbel, die ich durch-
wandert, und drängt mich nicht in die
Gefilde, die ich nicht mehr zu durcheilen
vermag. Hier leide ich nicht, ich ruhe.

Philarithmos: Und wie könnte
solches geleistet werden?

Kosmotheoros: Indem auch Nicht-
wägbares und Nichtmessbares zugelassen
wird bei der Welt-Erklärung. Nicht bei
der Beschreibung dieser Erscheinung oder
jener, sondern der Welt im Ganzen
genommen. Denn, wie wir früher mit
einander ausgemacht haben, genügt unser
Verstand für alles Abzählbare. Was aber
nicht mehr Einheit hat oder Mehrheit,
das durchschaut der Verstand nicht mehr
genau, und hieraus entspringt das Gefühl
der Unbefriedigtheit. Wird aber gleich
am Anfang der Untersuchung den Dingen
eine Eigenschaft oder ein Zustand zu-
geschrieben, den man nicht ohneweiters
aus ihnen abnehmen und von dem
man sich nur dadurch Rechenschaft geben
kann, dass man sich selbst als Ding be-
trachtet, und nun zusieht, ob man selbst
solcherart empfindet, so kann man, indem
man ja am verstandesmäßig Erfassbaren
selbst gar nichts geändert hat, nun weiter
beobachten und suchen, und man wird dann
am Schlusse der Arbeit das Gefühl der
Übereinstimmung von Ding und Ich, von
Erscheinung und Art der Wahrnehmung
freudig empfinden. Freilich kommt den
Nachforschungen dieser Gattung nicht
jederzeit dieselbe Allgemein-Verständ-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 104, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-05_n0104.html)