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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 105

Text

KOMAREK: VOM WESEN DER MUSIK.

lichkeit zu, wie den Betrachtungen der
allgemein üblichen Art. Denn zunächst
wird hier vorausgesetzt, dass die den
Dingen zugewiesene Empfindung am
eigenen Leibe, als einem Dinge in der
Welt, empfunden werde; alle Menschen
haben aber bei den gleichen Veränderungen
nicht dieselben Empfindungen. Daher wird
das auf solchem Wege Gefundene nur
Geltung haben für Die, die so empfinden
wie der Weise, von dem hier die Rede
ist. Diesem aber ist hiedurch ein großer
Trost gegeben.

Philarithmos: Wenn ich dich also
richtig verstehe, so willst du die Em-
pfindung an Stelle des Verstandes treten
lassen, das Gefühl an Stelle des Schlusses.

Kosmotheoros: Nicht also, Lieber.
Was beobachtet wird, muss gemessen
werden; denn flüchtig ist die Erscheinung.
Nur bezüglich des nicht weiter zu Be-
obachtenden sei es jenen Weisen ge-
stattet, ihre Empfindungen und Meinungen
zu äußern; und, wenn es geht, dieselben
in die Beschreibung der Natur-Erschei-
nungen zu verweben, ohne dass diesen
im mindesten Zwang angethan zu werden
braucht. So sei ihnen auch dieses ein-
geräumt.

Philarithmos: Wenn du weiter nichts
auf dem Herzen hast, so sei es dir ge-
währt. Mich selbst aber verschone mit
dergleichen Auslegungen und Deutungen.
Mir ist es schwer genug, das Wäg- und
Messbare allein aufzunehmen und zu be-
halten. Was würde mir dann auch deine
Anschauungsweise nützen, gesetzt, dass
ich sie begriffe?

Kosmotheoros: Dies zu beantworten,
sei es mir erlaubt, dich an die sternen-
hellen Sommernächte zu erinnern, in denen
wir gemeinsam über Land reisten. Waren
uns die hellglänzenden Lichter nicht eben-
sowohl Führer als Schmuck der träumen-
den Natur? Blickten wir nicht zu ihnen
auf, sowohl um den Weg nicht zu verfehlen,
als um uns an ihrer Pracht zu ergötzen?
Wohlthätig erscheinen sie uns und erhaben
zugleich.

Philarithmos: Mir erscheinen sie
nicht erhaben. Soviel Tausende von
Stadien ist der rothe Stern von uns ent-
fernt, und soviel Tausende der grüne.
Was hat dies mit der Erhabenheit zu thun?
— Leb’ wohl!

Kosmotheoros: Die Götter mögen
dich geleiten!

VOM WESEN DER MUSIK.
Von ALFRED KOMAREK (München).

Man mag es unternehmen, zu ana-
lysieren, worauf im einzelnen dies oder
jenes Gefühl, diese oder jene Schönheit
basiert; allein jenes Gewebe im einzelnen
Kunstwerke vollkommen zu entwirren, ist
nicht möglich, zumal alles, was dunkel in
uns lebt, an sich schon schwierig ins klare
Bewusstsein zu heben ist und dunkle
Vorstellungen überdies niemals einzeln,
sondern stets in Gesammtheiten auftreten,
so dass jedes Bewusstsein überaus compli-
ciert gestaltet. Die Frage: was ist Musik,
wie gestaltet sich das Musikalische in
unserem Bewusstsein, möge also das Fol-
gende zu beantworten versuchen.

An Dunkelheit des Gehaltes mag nur
die Architektur mit der Musik in eine
Reihe gestellt werden können, während
die Malerei und Poesie sich gewisser Kern-
vorstellungen bedient, um welche sie jene
Welt baut. Jene Kernvorstellungen sind
die höheren Standpunkte, auf die uns der
Künstler erhebt und von denen aus wir
jene Welt überschauen und beherrschen.
Die Musik verfolgt zwar ebenso die all-
gemeinen Kunstzwecke der Erhebung
und dementsprechend die Erweiterung
des Vorstellungskreises, der Erregung
von Vorstellungsfülle, also Leben in
unserem Bewusstsein; auch sie besitzt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 105, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-05_n0105.html)