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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 106

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KOMAREK: VOM WESEN DER MUSIK.

jene höheren und höchsten Standpunkte,
das sind intensive, im Vordergrunde
stehende Kernvorstellungen, die dem
Kunstwerke jene einheitliche Theilung
gewähren, die zu dessen Beherrschung
so unumgänglich nothwendig ist (siehe
die Zeichnung): allein der innerste Gehalt
dieser ist bei der Musik ein durchaus
dunkler, und dadurch unterscheidet sie
sich wesentlich von den anderen Künsten.
Die Programm-Musik ist zwar bemüht,
dieselben klar zu gestalten, indem sie sie
in ihrem Programm feststellt und uns
durch die Sprache vermittelt, allein damit
tritt sie auch aus ihrem innersten musi-
kalischen Wesen heraus und bedient sich
künstlicher Mittel, wie der Sprache, uns
jene klaren Kernvorstellungen und höheren
Standpunkte zu geben, die auf musikalische
Art in uns zu erzeugen wegen der Mangel-
haftigkeit ihrer Mittel ihr versagt bleibt.
Mit der Kunst ist es wie mit einer
Wanderung auf einem sicheren, land-
schaftlich schönen Wege. Wir sehen hier
klare Dinge, hier einen Berg, dort ein
Schloss, die jedoch erst in Verbindung
mit der Welt, die sie umgibt und die in
der Ferne verschwimmt, zur Wirkung
gelangen. Und so wie von einem
höheren Standpunkt ein schönes, weites
Land erhebend und befreiend wirkt, so
auch die Kunst, die uns künstlich auf
einen hohen Standpunkt stellt und jene
weite Vorstellungswelt erzeugt, die wir
sodann gleich einer schönen Natur wie
im Schauspiel genießen. Es ist die Weite
und Fülle der Mystik auch zum Wesen
der Kunstwirkung gehörend. Da jedoch
der Gehalt selbst jener festen Standpunkte,
die die absolute Musik birgt, ein durchaus
dunkler ist, so eignet sich die Musik, weil
dunkle Vorstellungen sich an alles schmiegen
können, vor allen anderen Künsten zur
Vereinigung mit dieser. Ihr ist sodann
in diesem Wagner’schen Gesammt-Kunst-
werk jener Platz eingeräumt, den die
Mystik in jedem Einzel-Kunstwerk ein-
nimmt; sie dient nun dazu, jene unge-
heure Welt von Vorstellungen, die
wachzurufen ja die Hauptaufgabe jedes
Künstlers ist, noch zu erweitern und das
psychische Leben umso mannigfacher und
lebhafter zu gestalten. Die psychische
Wirkung musste in der italienischen Oper

überaus verwirrt werden. Da der Gehalt der
Musik ein durchaus dunkler ist, so ist sie in
ihrer Art allumfassend. Hierin begreift sich
Welt und Seele von selbst. Denn das-
jenige, was wir Welt und Leben nennen,
erscheint zwar als etwas Äußerliches;
was ist es jedoch im Grunde anderes,
als die Gesammtheit der psychischen Be-
ziehungen zwischen dem Menschen und
der Natur?

Die Musik besitzt nur drei Mittel, näm-
lich die des Tons, die des Rhythmus
und das Mittel der parallelistischen Nach-
ahmung. Unmittelbar kann die Musik sonach
nur Töne und Rhythmen geben, mittelbar
jedoch dasjenige, was sich darin manifestiert.
Während die Dichtkunst durch das
Mittel der Worte, denen stets ein be-
stimmter Begriff, sammt seiner ihn um-
gebenden dunklen Vorstellungs- und Ge-
fühlswelt zugrunde liegt, das Sinnliche
wie Abstracte durchaus deutlich wieder-
zugeben imstande ist, der Malerei die
gesammte sinnliche Welt der Farbe sammt
allem, was die Menschen an Seelenleben in
diese ungeheure Welt hineinzulegen im-
stande sind, zu Gebote steht, ist
der Musik die Welt der Töne und
Rhythmen zueigen. Will sie andere Vor-
stellungen als die der Töne und Rhythmen
zur Darstellung bringen, so können dies
nur solche sein, denen der Ton oder der
Rhythmus als ein Merkmal anhaftet oder
solche, mit denen der Ton oder der
Rhythmus in einer festbestimmten, den
Menschen geläufigen Ideen-Associations-
kette stehen. Sie vermag z. B. das
Krächzen der Raben nachzuahmen, wor-
auf die Vorstellung der Raben mit
ihrem Wesen, ihrem Fluge etc. ins Be-
wusstsein treten wird, die Hirtenflöte, den
Kuckucksruf u. s. f. Derselbe Ton, resp.
Rhythmus kann nun mannigfachen, ver-
schiedenen Vorstellungen gemeinsam sein,
die sodann ins Bewusstsein treten und sich
wegen ihrer Verschiedenartigkeit zu einem
logischen Gebäude gar nicht zusammen-
fügen können. Sie müssen sonach eine
Vorstellungsmasse bilden, die im ein-
zelnen Falle meist gar nicht er-
schöpfend analysiert werden kann, so dass
selbst hohe Geister der absoluten Musik
keine Klarheit werden abgewinnen können.
In geringen Theilen, im einzelnen Takte

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 106, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-05_n0106.html)