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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 107

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KOMAREK: VOM WESEN DER MUSIK.

kann wohl des öfteren gesagt werden
können, welche Vorstellungen sich hier
mystisch vereint haben mögen; da jedoch
dies andererseits meist nur subjectiv sein
kann, so mag wohl gar oft schon der
darauffolgende Takt diesen herausgehobenen
Vorstellungen widersprechen. Die musi-
kalische Vorstellungsweise muss sonach
unbestimmt und mangelhaft werden. Was
nun das Merkmal des Tons betrifft,
so vermag die Musik Naturlaute voll-
kommen getreu wiederzugeben, und dieses
Gebiet findet in der Tonmalerei reich-
liche Anwendung. Das Waldesweben
(Siegfried) wird die Musik mit den
Mitteln des Tons und des Rhythmus
dadurch herstellen, dass sie das Rauschen
der Baumwipfel sammt dem Rhythmus
der Bewegung, die den Baumstämmen
wie den Blättern angehört, nachahmt;
hiezu tritt noch das Summen der zahl-
losen Insecten sammt dem Rhythmus des-
selben, der Gesang der Vögel und als
Ausdruck der heiligen Stille parallelistisch
die Harmonie und das Pianissimo.
Mazeppa (Liszt), auf das Pferd gebunden,
bei Nacht und Sturm durch die Steppe
rasend, vermag die Musik dadurch auszu-
drücken, dass sie die Rhythmen der Bewegung
des Reiters mit denen der Bewegung des
Pferdes vereint wiedergibt, was unfehlbar die
Vorstellung von Pferd und Reiter wachrufen
muss, und ferner das Heulen des Sturmes
und die Einöde der Steppe parallelistisch
durch Eintönigkeit des Tonfalles hinzu-
fügt. So vermag die Musik, insbesondere
dort, wo sie die Erzeugung von klaren
Vorstellungen zur Tendenz hat, solche
auch bis zu einer gewissen Intensität
hervorzurufen. Nun gibt es in der oben-
erwähnten Kategorie der Ton-Nachahmung
eine Art der Nachahmung, die wohl wie
keine andere seelisches Leben auszudrücken
vermag und daher am umfassendsten zur
Anwendung gelangt, das ist die des Ton-
falles beim Sprechen
. Historisch dürfte
sie wohl die älteste sein, da sie vor allen
anderen am nächsten liegt, so dass alle Musik
in ihr ihren Ursprung haben mag. Es mag
wohl von manchem behauptet werden, dass
die Nachahmung des Rhythmus beim Gehen
und Tanzen denselben Anspruch hat, als
die älteste zu gelten; allein der Rhythmus
des Gehens bietet wenig Abwechslung

und nur schwer eine Melodie; der Tanz,
der abwechslungsreicher ist, erfordert jedoch
Erfindung oder eine entstandene Sitte, die
mit den Opferungen, wichtigen Lebens-
abschnitten, wie Geburt, Heirat, Tod u. s. w.
in Verbindung steht. Nichts liegt aber
näher, als dass Einer, der auf einem ein-
samen Spaziergange zu sich selbst zu
sprechen beginnt, träumend den Tonfall
seines Sprechens bemerkt und diesen nun,
nach seinem künstlerischen Gefühl har-
monisch geordnet, als fertige Melodie vor
sich hersummt. Verbindet er damit noch
die Worte, die diesem nun idealisierten
Tonfall des Sprechens entsprechen, so mag
er auch schon ein Lied vor sich haben.
Allein nicht nur ist jede Lied-Melodie
nichts als ein idealisierter Tonfall beim
Sprechen (am deutlichsten zeigt dies
Wagner im Recitativ), sondern auch in
der absoluten Musik, wie der Symphonie
und Sonate, und fast ausnahmslos in der
Salon- und Luxus-Musik wird dieses Mittel
der Musik in sehr weitem Maße angewendet.
So dürfte der Anfang der Mozart’schen
G-moll-Symphonie irgend einen, Freude
manifestierenden Tonfall und dazu den
Rhythmus eines leichten, hüpfenden Schrittes
enthalten. Klingt eine derartige Melodie
an unser Ohr, dann erzeugt sie dasselbe
Vorstellungsleben in uns, wie wenn wir
aus der Ferne sprechen hörten, den Ton-
fall noch deutlich vernehmen, die Worte
jedoch nicht mehr verstehen können. Wir
werden aus dem bloßen Tonfall ahnen,
ob der Inhalt des Gespräches schmerzlich
oder freudig, enthusiastisch, melancholisch
u. s. f. beschaffen war. Wir schließen
sonach aus der bekannten Wirkung,
nämlich dem bereits bekannten Tonfall,
auf die Ursache der seelischen Stimmung.
Die Musik dürfte so wohl auch die älteste
der Künste sein, die ursprünglich durchaus
unbewusst vom Einzelnen gebildet und
bewahrt wurde. Bei wilden Völkerschaften
dürfte man wohl diesfällige Beobachtungen
anstellen können, wie auch bei den ihnen
psychisch so nahestehenden Kindern. Me-
lodien sind in Harmonien gebrachte Töne,
die meist nur der seelische Gehalt des
Tonfalles beim Sprechen bestimmt. Je
ausdrucksvoller dieser Tonfall, respective
je tiefer der seelische Gehalt, desto wert-
voller die Melodie. Fehlt jedoch dieser

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 107, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-05_n0107.html)