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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 108

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KOMAREK: VOM WESEN DER MUSIK.

gänzlich, so ist dies eine architektonische
Figur. Die das Kind umgebende Welt mit
ihrem Lärm pflanzt täglich Tausende von
Ton-Vorstellungen in sein Bewusstsein,
die es wegen des ihm anhaftenden Nach-
ahmungs- und Assimilations-Triebes zur
Reproduction reizen werden. Zudem ist
das Kind geistig sehr regsam, weshalb
die so naheliegende Nachahmung des
Tonfalles beim Sprechen für dasselbe viel
befriedigender ist, als das mühsame, sym-
metrische Ordnen von Tönen, die man
gar nicht sehen und überschauen kann,
sondern nur hört. Die kindliche Stimme
ist überdies überaus modulationsfähig; das
Kind spricht oft singend, so dass es die
Melodie unbewusst während des Sprechens
beinahe fertigstellt. Das Schönheitsgefühl
hat sodann nur eine geringe Arbeit zu
leisten.

Die Nachahmung des Tonfalles beim
Sprechen erzeugt nun dunkle Vorstellungs-
ketten von psychischen Affectionen, und
zwar von allen jenen, deren Manifestation
beim Sprechen derselbe Tonfall zueigen
ist. (Ideen-Association auf Grund der
Gleichheit oder Ähnlichkeit.) Es sind dies
Vorstellungsketten, die sich wegen der
Dunkelheit ihres Gehaltes wie in den
früheren Fällen häufen werden. Bei der
Nachahmung des Rhythmus, dieses zweiten
bedeutsamen Darstellungsmittels der Musik,
tritt das Gleiche ein. Der Rhythmus des
Fluges kann auch die Vorstellungen des
Fliehens der Wolken, des Gleitens eines
Kahns, des Fließens des Baches etc.
wachrufen; all diese verschiedenartigen,
unvereinbaren Vorstellungen, die stets
gleichzeitig beim Ertönen des Rhythmus
ins Bewusstsein treten, können nur
mystisch verschlungen darin verweilen.
Rhythmen von körperlichen Bewegungen
eignen sich vor allen andern zum Ausdruck
psychischen Lebens. Alle Empfindungen
von derartigen Bewegungen sammt ihrem
psychischen Gehalt müssen nun gleichfalls
mystisch vereint und gleicherzeit ins Be-
wusstsein treten. Ein gemessenes Gehen
wird die Trauer (im Trauermarsch noch
überdies der klagende Tonfall beim
Sprechen), Tanzen und Springen die
Fröhlichkeit manifestieren. Die Unbe-
stimmtheit ist also auch hier unaus-
bleiblich. Bestimmter wird die Musik

jedoch werden, wenn sie zwei Merkmale
einer Vorstellung, die des Tons und die
des Rhythmus, zur Darstellung bringt.
Vereint sie das Plätschern der Welle mit
dem Rhythmus des Fließens, so wird die
Vorstellung eines Baches deutlich ins Be-
wusstsein treten. Ahmt der Künstler hierauf
noch die Hirtenflöte nach, so wird sie
eine Vorstellungskette ländlicher Stimmung
mit sich bringen und zur Klärung obiger
Vorstellung beitragen. (Beethovens Pa-
storale.) Das dritte Mittel der Musik ist
das Parallelistische, wobei Vorstellungen
irgendeines Sinnengebietes durch Vor-
stellungen eines anderen Sinnengebietes
zur Darstellung gelangen. In der Musik
werden letztere Gehörsvorstellungen sein.
Licht wird hierauf durch helle Töne
(Blitz in Beethovens Pastorale), Dunkel
durch tiefe Töne (Alberich-Motiv in
Wagners Nibelungen-Ring), Erhabenheit
durch Stärke und Anschwellen des
Tones (Walhall-Motiv), Kleinheit durch
das Pianissimo und die Tonhöhe, ein
freundlicher Sinn durch die Harmonie,
ein feindlicher, düsterer durch die Dis-
harmonie ausgedrückt werden. In letzteren,
wie in anderen Fällen, wird die aus-
zudrückende sinnliche Vorstellung aller-
dings durch eine rein psychische Em-
pfindung ersetzt. Diese parallelistische
Ausdrucksweise der Musik ist jedoch
keinesfalls von den übrigen so weit ver-
schieden. Sie ist wie die übrigen in der
Ideen-Association begründet, wenn die-
selbe auch hier weiter reicht als anderswo.
Die psychische Wirkung der Musik wurde
nun in ihre Grundelemente zerlegt und
möge nun wieder zum Ganzen gefügt
werden. Die Vorstellungs-Erzeugung in der
Kunst wäre sehr ärmlich, wenn uns die-
selbe jede einzelne Vorstellung, die sie
uns ins Bewusstsein pflanzen will, speciell
vorführen würde; sie bedient sich zu
diesem Zwecke der Gedanken-Association,
das heißt, sie zündet mit einem Schlage
tausend Lauffeuer in unserem Bewusstsein.

Mehr als in jeder anderen Kunst
herrscht die Association in der Musik;
sie verzweigt sich bis in die entferntesten
Theile unseres Bewusstseins, alles zum
Leben weckend, was tief unter der Schwelle
in immerwährenden Schlaf versenkt ist.
So stellt sich die musikalische Wirkung

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 108, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-05_n0108.html)