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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 110

Text

KEUSCHHEIT UND PRODUCTIVITÄT.
Von HEINRICH PUDOR (Leipzig)

Gibt es einen Zusammenhang zwischen
körperlicher und geistiger Productivität?
Diese Frage ist wohl schon gestellt worden,
ohne dass jedoch ihre Beantwortung ent-
schieden worden wäre. Wohl aber ist man
sich des Zusammenhanges zwischen dem
Geschlechtsleben und dem geistigen Leben
und der Bedeutung dieses Zusammen-
hanges wohl bewusst gewesen. Die
Meinungen gehen nur darüber auseinander,
ob geschlechtliche Enthaltsamkeit geistige
Productivität begünstigt oder aber ver-
hindert, ob geschlechtliche Ausschweifung
der Entfaltung des Phantasie-Lebens günstig
oder ungünstig ist. Die Erfahrung lehrt
jedenfalls, dass die großen Genies ver-
gangener Zeiten trotz großer Anlage zur
Sinnlichkeit der Bethätigung der Ge-
schlechtslust sich nicht opferten. Ob zu-
treffend oder nicht, ist die Behauptung,
dass Newton, ohne je ein Weib berührt
zu haben, ins Grab gegangen sein soll,
immerhin charakteristisch. Goethe hat
römische Elegien geschrieben, aber niemand
wird behaupten wollen, dass unter den
persönlichen Charakterzügen dieses Mannes
die Geschlechtslust eine hervorragende
Rolle spielte. Ganz im allgemeinen kann
man den Satz aufstellen, dass im Leben
der productiven Genies das Weib als
Geschlechtswesen einen ersten Platz nicht
eingenommen hat. Eine ganz andere Frage
ist natürlich, ob die Geschlechts-Capacität
vorhanden war, ob eine besondere Anlage
zur Sinnlichkeit da war, ob die geschlecht-
liche Empfänglichkeit, Empfindlichkeit und
Äußerungsmöglichkeit in hervorragendem
Maße vorhanden war. Und diese Frage
muss ebenso entschieden bejaht werden,
als die andere verneint werden muss. Ja,
es scheint sogar, als ob das Genie nichts
ist als eine außerordentlich gesteigerte
Sinnlichkeit, eine hochgespannte geschlecht-
liche Empfänglichkeit, eine außerordent-
liche Geschlechts-Capacität, deren magne-
tische Triebkraft, deren Impulsivkraft und

Explosivstärke aber — und dies ist das
Wesentliche — für das Gebiet des geistigen
Schaffens fructificiert und auf dieses Gebiet
hinübergespielt wurde. Dass die hervor-
ragendsten Maler ihre schönsten Modelle
gemalt, aber nicht umarmt haben, ist
eine Erfahrungs-Thatsache. Dass drei der
größten Genies aller Zeiten: Shakespeare,
Beethoven, Tschaikowsky — von der
griechischen Antike ganz zu schweigen —
direct feindlich zum Femininen sich
stellten, ist ebenfalls eine Thatsache. Auf
der anderen Seite haben wir die Erscheinung,
dass gerade diejenigen Frauen, die von
Natur außerordentlich sinnlich veranlagt
sind, aus diesem oder jenem Grunde aber
nicht dazu kommen, ihren Mutterberuf zu er-
füllen, nun alles, was in ihnen an heißen
Trieben, an glühendem Empfinden, an
wilden Begierden lebt, auf geistigem und
künstlerischem Gebiete zum Austrag
bringen.

Um alle diese Erscheinungen erklären
zu können, müssen wir nach Dem suchen,
was dem Geschlechtlichen und dem
Geistigen gemeinsam ist. Dies aber ist
die Phantasie. Die Phantasie weckt das
Geschlechtsleben, sie weckt aber auch
das Geistesleben. Auf diesem wie auf
jenem Gebiete spielt sie nicht nur eine
hervorragende, sondern die ausschlag-
gebende Rolle. Die Phantasie als Vor-
stellungskraft und Einbildungskraft ist es,
welche geschlechtliche Lüste in uns wach
werden lässt, und sie ist es auch, welche
die Ideen in uns weckt. Und diese Kraft
der Phantasie ist selbst wiederum nur
eine außerordentliche Empfindungsfähig-
keit. Nur da und nur dann, wo empfunden
wird, wird die Phantasie rege. Je glühender
die Empfindung ist, desto lebhafter wird
die Phantasie. Ohne Empfindung keine
Phantasie. Die Thätigkeit der Phantasie
ist eine Folge-Erscheinung der Empfindung.

Darnach ist es einleuchtend, dass,
je mehr Empfindungskraft und je mehr

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 5, S. 110, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-05_n0110.html)