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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 124

Text

SCHOPENHAUER UND DER INDIVIDUALISMUS.
Baustein zum Aufbau einer heroischen Welt-Anschauung
Von LUDWIG KUHLENBECK (Jena).
V.

Nichts kann einer tieferen und klareren
Auffassung unseres Individualismus förder-
licher sein, als eine Auseinandersetzung
mit Schopenhauer, dem genialsten
metaphysischen Denker der Neuzeit nach
Kant. Wir haben es nicht vermeiden
können, ihn schon häufig bald zustimmend,
bald ablehnend anzuführen und werden
dies auch in Zukunft nicht vermeiden
können; mit Schopenhauer muss, wie mit
Kant, jeder rechnen, der in modernem
Sinne zu philosophischer Besonnenheit
gelangen will, er müsste denn selber so
genial sein, um ihre Gedankenarbeit ent-
behren zu dürfen; der Rest der modernen
Philosophen darf aber auch einer bloßen
Durchschnittsvernunft ohne große Einbusse
quantité négligeable sein.

Es wäre uns nun, wollten wir mit
Autoritätsbeweisen, den schlechtesten von
allen, ein gewissenloses Spiel treiben, ein
Leichtes, eine ganze Reihe von Sätzen
aus Schopenhauer so zu gruppieren, dass
wir ihn zum entschiedensten Individualisten
stempelten. Aber ein Leichtes wäre es auch,
diesen Sätzen eine völlig entgegengesetzte
Excerptengruppierung entgegenzustellende
uns Lügen zu strafen schiene. Dass es so
möglich ist, eine solche Schopenhauer-
Antinomie aufzustellen, macht uns gerade
Schopenhauer besonders wertvoll, denn
jenes von Giordano Bruno so oft betonte
Princip der Wahrheitsforschung, die Dia-
lectik des Widerspruchs
, die Co-
incidenz der Gegensätze
(vergleiche
meine »Lichtstrahlen aus Giordano Brunos
Werken« S. 112), ein Princip, das ein Hegel
mit bloß formal dialectischem Spiel so
sehr in Verruf gebracht hat, findet gerade in
diesem Denker, der, ähnlich wie Kant,
dadurch für Jahrhunderte hinaus anregend
wirken muss, dass er nicht nur alte Probleme

löst, sondern auch tiefe neue Probleme
stellt, einen wirksamen Vertreter. Daher
gehört Schopenhauer zu den wenigen
Größen der Philosophie, die nicht »Schüler«,
sondern Selbst-Denker bilden und
fordern.

Wenn Individualismus die Überzeugung
von der Ewigkeit, Wesenhaftigkeit, Selbst-
herrlichkeit oder Autonomie unseres Selbst
oder Ich ist, und wenn wir dabei
dieses Ich nicht mit unserem
Bewusstsein verwechseln
, sondern
es für einen untheilbaren, einheitlichen
Träger dieses Bewusstseins nehmen, so
wüsste ich keinen entschiedeneren Vertreter
dieser Auffassung zu nennen, als Schopen-
hauer.

Unseren letzten Aufsatz über die
»Aseïtät« oder metaphysische Selbständig-
keit oder auch, wenn man will, immanente
Göttlichkeit der Individualität, hätten wir
auch mit folgendem Satz Schopenhauers
beginnen oder enden können:

»Aus meiner Lehre folgt aller-
dings
, dass jedes Wesen sein eigenes
Werk ist
. Die Natur, die nimmer
lügen kann und naiv ist wie das
Genie
, sagt geradezu dasselbe aus,
indem jedes Wesen an einem andern,
genau seinesgleichen, nur den
Lebensfunken anzündet und dann
vor unseren Augen sich selbst
macht
, den Stoff dazu von außen,
Form und Bewegung aus sich selbst
nehmend
, welches man Wachsthum
und Entwicklung nennt
. So steht
auch empirisch jedes Wesen als
sein eigenes Werk vor uns
. Aber
man versteht die Sprache der
Natur nicht
, weil sie zu einfach ist

Entschiedener kann der Kern der Auf-
fassung, in der wir selbst die wahre Ent-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 124, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0124.html)