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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 126

Text

KUHLENBECK: SCHOPENHAUER UND DER INDIVIDUALISMUS.

schläft, und ebenso, wenn dasselbe im
Tode untergeht, unversehrt bleibt.«

Das sind goldene Worte, die eben
das, was wir unser transcendentales
Subject nennen, vor jener Verflüchtigung
bewahren, die es zu einem Schemen eines
Schemens, zu einer bloßen unbegreiflichen
Selbstspiegelung von Vorgängen entwerten
muss, die »vorgehen« sollen, man weiß
nicht wo und in einem Brennpunkt,
der formalen Einheit des Bewusst-
seins zusammentreffen, man weiß nicht
warum. Es sind auch goldene Worte im
Sinne unserer Erkenntnistheorie, deren
Dreieinigkeit von Fühlen, Wollen und
Denken ebenfalls dem »Herzen« das
Primat zuerkennt vor dem »Hirn«. Mag
auch mancher den Inductionsbeweis aus
der Identität des »Blickes« belächeln —
für bloße Gehirnmenschen hat überhaupt
Schopenhauer, gerade weil seine geniale
Intuition das bischen bloße »Hirnen«
solcher flächenhaft »Intellectuellen« weit
überragte, nicht geschrieben. Wer mit
uns »dreidimensional« zu denken vermag,
wird es allemal vorziehen, mit Schopen-
hauer den Kern unseres Wesens als
Willen zu bezeichnen, als mit gewissen
modernen Associations-Psychologen den
Willen sogar aus der Psychologie zu
streichen.

Aber es ist vielleicht mehr ein noth-
wendiges Übel der Sprache, als eine
Schwäche des Denkens, dass alle Geister, die
mit kräftiger Entschiedenheit einer von ihrer
Zeit verkannten Wahrheit wieder zum
Rechte verhelfen wollen, einer gewissen
Einseitigkeit mehr anheimzufallen
scheinen, als wirklich unterliegen. So ergieng
es Schopenhauer mit dem Willen. Sein
Volo, ergo sum ist gewiss bedeutsamer
und tiefgründiger, als das Cogito, ergo sum
eines Deskartes. Dennoch aber wird es
ebenso falsch wie jenes, wenn Schopen-
hauer in dem Bestreben, den Schwer-
punkt des Seins wieder zurechtzurücken,
jenen Monismus aufgibt, den wir als
Monismus des Denkens, Fühlens und
Wollens bezeichnen und uns seltsamer-
weise unter gleichzeitiger Voraus-
setzung eines abstracten Monismus (Eins
und Alles) das Ansinnen stellt, ein Wollen
ohne Vorstellung
als einzigen letzten
Weltgrund vorauszusetzen.

»Der Grundzug meiner Lehre, welcher
sie zu allem je Dagewesenen in Gegensatz
stellt, ist die gänzliche Sonderung des
Willens von der Erkenntnis
, welche
beide alle mir vorhergegangenen Philo-
sophen als unzertrennlich, ja, den Willen als
durch die Erkenntnis, die der Grundstoff
unseres geistigen Wesens sei, bedingt und
sogar meistens als eine bloße Function
derselben angesehen haben. Jene Trennung
aber, jene Zerlegung des so lange untheil-
bar gewesenen Ichs oder Seele in zwei
heterogene Bestandtheile ist für die
Philosophie das, was die Zersetzung des
Wassers für die Chemie gewesen ist,
wenn dies auch erst später erkannt werden
wird. Bei mir ist das Ewige und Unzer-
störbare im Menschen, welches daher auch
das Lebensprincip in ihm ausmacht, nicht
die Seele, sondern, um mir einen chemi-
schen Ausdruck zu gestatten, das Radical
der Seele, und dieses ist der Wille.
Die sogenannte Seele ist schon zusammen-
gesetzt: sie ist die Verbindung des Willens
mit dem , Intellect. Dieser Intellect
ist das Secundäre, ist das Posterius des
Organismus und, als eine bloße Gehirn-
function, durch diesen bedingt.« (»Wille in
der Natur«, Reklam S. 220.)

In diesem Grundzug seiner Lehre liegt für
uns ihr erster Grund-Irrthum, freilich nicht,
sofern bloß dasjenige Denken in Frage
steht, das eine Gehirnfunction ist; — dieses
freilich ist ein secundäres Erzeugnis unserer
Organisation, also unseres Wollens — wohl
aber, sofern dadurch auch der transcen-
dentale Wille, der diese Organisation ge-
schaffen hat, blind, d. h. vorstellungslos
gemacht wird. Wir können den hier
unterlaufenden Denkfehler schon an dem
chemischen Bilde selbst nachweisen, das
Schopenhauer wählt, um die Tragweite
seiner Scheidung zu verdeutlichen. Lavoisier
zerlegt das Wasser in Sauerstoff und
Wasserstoff. Ist aber hier etwa der Sauer-
stoff etwas Secundäres? Ist darum der
Wasserstoff primär und hat er den
Sauerstoff erzeugt? Beide Urstoffe
sind gleichwertig für die Zusammen-
setzung des Wassers
, welches selber nur
eine Erscheinung ist. Ähnlich und doch
auch umgekehrt verhält es sich mit der
Seele. Diese aber ist nicht selber eine Er-
scheinung, die entstanden wäre durch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 126, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0126.html)