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Zusammensetzung von Wille und Vor-
stellung, sondern umgekehrt Wille und Vor-
stellung sind Erscheinungsformen der Seele,
die wir wohl logisch unterscheiden,
aber niemals in Wirklichkeit scheiden
können. Solange uns also nicht eine Vor-
stellung ohne Gefühls- und Willens-
index oder ein Wollen ohne Vor-
stellungs- und positiven oder nega-
tiven Gefühls-Index aufgewiesen wird,
ist Schopenhauer im Unrecht. Da (vgl.
die vorausgeschickte erkenntnistheoretische
Ouvertüre in Jahrgang IV, Nr. 13) kein
Gedanke ohne Gefühlsmotiv ist, da wir
die drei Formen des Seelenseins wohl
unterscheiden, aber nicht scheiden können,
muss es sogar von Interesse für uns sein, das
Gefühls-Motiv aufzusuchen, das einen
Schopenhauer zu dieser einseitigen Wert-
schätzung des Willens, zu dieser unzu-
lässigen Abstraction desselben vom Vor-
stellen, zu dieser Kopfstellung des auch
von uns bei seinen Vorgängern und Anti-
poden mit Recht gerügten Primas der
Vorstellung veranlasst haben mag.
Wir finden dieses Motiv in seinem
Pessimismus. »Die Macht, die uns ins
Dasein rief«, schreibt er § 400 der Neuen
Paralipomena, Reklam S. 246 »muss eine
blinde sein. Denn eine sehende, wenn
eine äußerliche, hätte ein boshafter Dämon
sein müssen; und eine innerliche, also wir
selbst, hätten sehend uns nie in eine so
peinliche Lage begeben. Aber rein er-
kenntnisloser Wille zum Leben, blinder
Drang, der sich so objectiviert, ist der
Kern des Lebens.«
Nun gestehen wir nothgedrungen — und
jeder Aufrichtige, der die Illusionen der
Jugend hinter sich hat, wird sich diesem
Geständnis anschließen — dass gerade der
Schopenhauer’sche Pessimismus, wohl zu
unterscheiden von allen späteren oder jetzt-
zeitigen Caricaturen und Fratzen desselben,
den edelsten und wahrsten Theil
seiner Lehre bildet, wenn wir ihn —
und das thut im Grunde auch Schopen-
hauer selbst — auf das Diesseits
beschränken. Hier ist er uns als ein
Schibboleth gegeben, durch das sich die
Geistter scheiden; wer, nachdem er das
dreißigste Lebensjahr überschritten hat, sich
noch nicht auf die Seite der alten griechi-
schen Tragiker, auf die Seite eines Voltaire
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(Candide), eines Byron, eines Leopardi,
ja eines Christus zu stellen vermag, viel-
mehr die Theodiceen des Hofphilosophasters
Leibnitz oder des Engländers Pope (Essay
on man) und das mosaische: παγα χαλα
λαϒ (alles ist sehr gut) geschmackvoll
findet, der ist entweder keine Candida anima,
oder hat eben noch nicht vom Baume
der Erkenntnis genossen. Der Schopen-
hauer’sche Pessimismus ist aber als
ethischer Pessimismus, als sittlicher
Entrüstungs-Pessimismus wohl zu unter-
scheiden von demjenigen Pessimismus,
den wir nicht anders als Schlechtig-
keits-Pessimismus kennzeichnen
können, weil er sich auf die Wurzel alles
Daseins überträgt und diese für grund-
schlecht erklärt. (Eduard v. Hartmann.)
Nach unserer Erkenntnis-Theorie muss eben
jeder sich die Wurzel seines Daseins so
denken, wie er selber beschaffen ist; der
Gute gut, der Böse bös, der Germane
germanisch, der Arier arisch, der Jude jüdisch.
Daher ehrt es die Individualität Schopen-
hauers, dass sie den Weltwillen, um nicht den
metaphysischen Grund und Boden alles
Lebens für vergiftet zu erachten, ge-
blendet hat; denn nur so glaubte sie
ihm die Verantwortlichkeit für das Böse
in dieser Welt abnehmen zu können.
Allerdings wird damit doch im Grunde
nur der Schuldgrad des Vorsatzes (dolus)
auf den der Fahrlässigkeit und des
Irrthums reduciert. Ein zweites Motiv
für Schopenhauers Annahme eines primär
erkenntnislosen Willens ist die empirische
Thatsache, dass allerdings unser Ich-
Bewusstsein eine bloße Gehirnfunction ist
und dass die Schaffung des Gehirns wie
überhaupt unserer ganzen Organisation
für dieses Ich-Bewusstsein transcendent,
d. h. unbewusst ist.
Was nun zunächst das zweite Motiv
betrifft, so kann es bei uns keine Rolle
spielen. Denn daraus, dass uns die vor-
geburtliche That der Organisation unbe-
wusst ist, folgt nicht ihre absolute Be-
wusstlosigkeit; dass meinem Ich etwas un-
bewusst ist, bedeutet nur, dass der ge-
dächtnismäßige Zusammenhang des Vor-
stellungslebens unterbrochen ist und
diese Unterbrechung kann, wie die Er-
fahrung auch innerhalb des irdischen
Daseins beweist, eine bloß vorübergehende
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