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im Willen des Einzelnen wurzelt;
denn sein Charakter selbst ist indi-
viduell. Wie tief nun aber hier ihre
Wurzeln gehen, gehört zu den Fragen,
deren Beantwortung ich nicht unternehme.«
Zum Verständnis dieser Bemerkung
diene, dass für Schopenhauer Raum und
Zeit, als Bedingungen der Vielheit, das
Principium individuationis bilden, dass er
aber zugleich mit Kant beide Kategorien
nur für Formen der sinnlichen Anschauung
hält, also für bloße Attribute der Erschei-
nung, nicht des »Ding an sich«, dass
mithin das Ding an sich im Grunde un-
räumlich und unzeitlich — also Eins ist.
Aber wenn man aus der sogenannten
Idealität von Raum und Zeit auf die
Einheit, richtiger Einzigkeit, der
»Dinge an sich« oder wie immer man
das Wesen der Welt bezeichnen will,
schließt, so verwechselt man die Folge
mit der Ursache. Raum und Zeit sind
allerdings bloße Anschauungsformen und,
wenn man sich genau besinnt, sieht man
bald ein, dass schon die Frage, was sie
außerdem noch sein sollten, unsinnig ist.
Aber diese Anschauungsformen sind doch
nicht etwa früher gegeben, als es etwas
»anzuschauen« gibt, so dass nun die Einzel-
Erscheinungen in ihnen Platz nähmen,
wie in einem vorher für sie geschaffenen
»Behältnis«; das hieße ja eben wieder
jenem naiven Realismus anheimfallen,
den Kant in der Kritik der reinen Ver-
nunft widerlegen wollte. Erst die Ver-
schiedenheit der Anschauung, das
Auseinandertreten der Eins in die
Vielheit bedingt Raum und Zeit. Prin-
cipium heißt Ausgangspunkt, Ursprung,
Anfang. Also kann unmöglich Raum und
Zeit das Principium der »Individua-
tion«, genauer der Vielheit der Sonder-
gestaltungen des Seins sein — umge-
kehrt wird ein Schuh daraus: Weil die
Eins keine bloße einfache Eins, weil sie
nicht »einzig« bleibt, weil sie sich als
»Wille zum Leben« in unendlicher
Fülle, der des Sonderseins, differen-
ciert und lediglich als Einheit, das
heißt als beherrschende Gesammtkraft
trotz dieser Sonderung einen gewissen
Wirkungs-Zusammenhang zwischen den
unendlich vielen Einheiten aufrechthält,
als Monas monadum, erscheint nunmehr
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Raum und Zeit als nothwendige und all-
gemeine Bedingung der Individuation
oder Sondergestalt. Gäbe es nicht ver-
schiedene Erscheinungen für den
Gesichtssinn, den Tastsinn u. s. w., wir
würden niemals zu einer Raumanschauung
gelangen; gäbe es keinen Wechsel der
Empfindungen, wir würden niemals das
Wort und also auch keine Anschauung
der Zeit bilden.
Alles ist Eins (): der Indivi-
dualismus leugnet diesen Satz nicht, er
führt uns vielmehr erst in sein tieferes
Verständnis ein, indem er die Entstehung
der Eins, insbesondere auch unseres Ich aus
der Vielheit zurückweist, und umgekehrt
die Vielheit aus der Eins ableitet. Aber
dieses Eins und Alles, dieses
ist nicht Einerlei, sondern wird
— und Werden heißt Leben — un-
endlich Verschiedenes, ist also von Anfang
an ein sich unendlich in sich selbst
Unterscheidendes,
. Diese Weltformel Heraklits
löst alle Antinomien, in die Schopenhauer,
weil er im abstracten Monismus der Formel:
stecken blieb, sich überall
verwickeln musste, wo er Welt- und
Menschenräthsel zu beantworten ver-
suchte. — Der allgemeine Wille
zum Leben ist Wille zum Erschöpfen
der Möglichkeiten aller Lebensformen, also
Wille zur Differenzierung und Sonderung.
Da die Möglichkeiten unendlich sind, so
ist der Wille zum Leben gleichbedeutend
mit Wille zur Freiheit im positiven
Sinne. Freiheit ist das Wesen der
Gesammt-Welt. Diese Erkenntnis gibt
uns auch die Erklärung des Bösen und der
Übel, ohne uns darum zu nöthigen, den
Weltgrund selbst entweder blind und vor-
stellungslos oder absolut schlecht zu
nennen. Um der Freiheit willen erkennen
wir mit Schopenhauer keinen »Schöpfer«,
keinen »Macher« und »Herrn« der Welt
an, lassen vielmehr als metaphysische
Individualisten jedes Wesen sein eigenes
Werk sein. Um der Freiheit willen nehmen
wir die Möglichkeit in den Kauf, dass
in dieser Selbstschöpfung Wesen entstehen,
die ihrem Schöpfer und »Herrgott«, d. h.
sich selbst keine Ehre machen. Als
Individualisten aber lehnen wir es ab,
uns mit ihnen zu identificieren und uns
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