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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 131

Text

HARTMANN: DIE GEHEIME BEDEUTUNG DES KREUZES.

Seite 832): »Und du, eine göttliche
Seele unter Dämonen
, die als
erdgeborene natürlich feindlich
gesinnt sind
, wenn einer fremde Ge-
setze in ihrem Gebiet beobachtet, du
musst bedenken, von wannen du bist und
dass du hier in der Welt einen
Dienst erfüllst
. Du musst kämpfen,
nicht nur gegen andere, sondern der
schwerste Kampf ist mit dem unver-
nünftigen Theil der Seele« u. s. w.

Der Pessimismus des Individualisten
ist heroisch, er kann dies nur sein
in jenem transcendentalen Opti-
mismus
, der auch einem Schopenhauer
nicht fremd war, sobald sich ihm die
Nacht der blinden All-Eins-Lehre indi-
vidualistisch erhellte. Denn nachdem er
in § 328 »Vom Leiden der Welt« die
wahre Bemerkung macht: »Die gewöhn-
lichen und gemeinen Menschen, von denen
die Erde wimmelt, sehen meistens gar
behaglich und vergnüglich aus, während
auf den hohen Stirnen der Bevorzugten
häufig der Unmuth thront. Es ist, als ob
jene fühlten, das Erdenlos sei eben ihren

Verdiensten angemessen — diese hin
gegen, sie seien wohl eines besseren
wert
« — fügt er in § 329 sofort hinzu:

»Hebbel sagt in einem seiner allemanni-
schen Gedichte: »Es muss irgend eine
bessere Zukunft sein
, sonst wäre
das Abendroth nicht so schön

Den eigentlichen Schlüssel aber zur
Lösung der Antinomie bietet die von
Schopenhauer durchaus congenial erfasste
platonische Ideenlehre; sie ist es, die eine
individualistische Ausprägung nach unserer
Ansicht nicht nur zulässt, sondern sogar
fordert, allerdings eine solche in durchaus
aristokratischem Sinne. Bevor wir in
einem anderen Aufsatz auf diese Begründung
eingehen, verweisen wir den freundlichen
Leser auf das Studium des § 26, Buch II
von Schopenhauers »Welt als Wille und
Vorstellung«, um ihn auf die Behauptung
vorzubereiten, dass auch ein individueller
Charakter
als gesteigerte Objectivations-
stufe des Willens eine Idee, eine durch
ihren Sonderwert gerechtfertigte, übri-
gens grundlose und also ewige Selbst-
darstellung sein kann.

DIE GEHEIME BEDEUTUNG DES KREUZES.
Von FRANZ HARTMANN (Florenz).

Es gibt keinen wirklichen Mystiker
und wohl auch keinen gebildeten »Geist-
lichen«, der nicht weiß, dass hinter der
gewöhnlich angenommenen, äußerlichen
Bedeutung der Symbole der Christenheit
noch ein tieferer Sinn steckt, den die große
Menge nicht kennt, und auch jeder religiös
empfindende und nicht vom Dogmatismus
unlösbar befangene Mensch wird diese
Wahrheit empfinden. Dies ist besonders
in Bezug auf das Kreuz und die Kreuzigung
von Christus der Fall. Wer hat sich nicht
schon leise gefragt, wie es möglich sein
kann, dass durch die Hinrichtung eines
Menschen und durch das dabei vergossene
Blut die ganze Menschheit erlöst werden
könne? Wie viele hat schon dieser
Zweifel gequält, wenn sie auch sich vor
ihm gefürchtet und ihm, als angeblich

sündhaft, ausgewichen sind, und trotzdem
ist er immer wieder gekommen; denn die
Vernunft sträubt sich nicht gegen das,
was über ihr ist und was sie nicht fassen
kann, wohl aber gegen das, was wider
die Vernunft und gegen alle bekannten
Naturgesetze ist.

Geschichtliche Forschungen haben
diese Zweifel noch vermehrt und die
Wissenschaft zwar nicht mit der wahren
Religion, wohl aber mit dem religiösen
Aberglauben in Conflict gebracht. Dieselben
haben bewiesen, dass die Erlösung der
Menschheit durch die Menschwerdung
Gottes, mit anderen Worten, das Herab-
steigen des Logos in das Materielle (das
»Fleisch«) und dessen Wiederauferstehung
nicht eine Episode in der Geschichte des
Judenthums, sondern eine ewige Wahr-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 131, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0131.html)