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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 132

Text

HARTMANN: DIE GEHEIME BEDEUTUNG DES KREUZES.

heit ist, die sich schon in den ältesten
Religionssystemen, lange vor der christ-
lichen Zeitrechnung, durch das Symbol
des Kreuzes und der Kreuzigung darge-
stellt findet. Vielerlei Umstände sprechen
dafür, dass eine Kreuzigung der Person
von Jesus von Nazareth, so wie z. B.
in Sienkiewicz’ »Quo vadis« davon die
Rede ist, nicht stattgefunden hat. Der
weiseste unter den Aposteln, St. Paulus,
erzählt uns nirgends von einem äußer-
lichen, an ein Kreuz genagelten Christus,
wohl aber spricht er von Christus in
uns, der »ist das Geheimnis der Erlösung«
(Coloss. I, 27), und es ist in der Bibel
häufig von dem Kreuze, das jeder auf
sich nehmen muss, (Matth. X, 38) die Rede.

Auch widerspricht die Erzählung einer
solchen von Gott angeordneten Hin-
schlachtung dem Gefühle der Gerechtig-
keit. Eine alte Frau unter den »Heiden«,
welche durch einen Missionär zum ersten-
male davon hörte, gab zur Antwort:
»Nun, es ist schon sehr lange her, dass
diese Geschichte passiert ist; hoffen wir
zu Gott, dass sie nicht wahr ist!« —
Dies wünscht aber auch jeder recht-
schaffene Mensch, wenn er es auch nicht
gerade so ausdrückt; denn jeder, der nicht
von Eigennutz besessen ist und nicht durch
die Leiden eines anderen Menschen einen
Vortheil für sich selbst zu erhaschen
sucht, scheut sich, Gott, der Verkörperung
der höchsten Weisheit, Liebe und Güte,
eine solche Grausamkeit zuzuschreiben.

Ein Gelehrter, namens Bierbauer, der
sich viel mit dieser Frage beschäftigt
hat, weist in seinem Buche »Wurde
Christus gekreuzigt
« nach, dass die
Erzählungen des Neuen Testaments, wenn
man sie wörtlich nimmt, weder mit den
Gebräuchen der Römer, noch denen der
Juden übereinstimmen. Christus wurde
angeblich des Nachts abgeurtheilt und am
Morgen hingerichtet, nämlich am Tage
des Osterfestes (Passover); aber nach den
gesetzlichen Bestimmungen konnte dieses
Fest nicht auf einen Freitag fallen und
während dieser geheiligten Zeit durften
auch keine Hinrichtungen stattfinden. Der
jüdische Sanhedrin war eine Versamm-
lung ernster und angesehener Männer und
bestand aus mindestens dreiundzwanzig
Richtern. Diese hielten ihre Sitzungen

weder des Nachts, noch in dem Hause
des Hohenpriesters ab; auch durften sie
nach Sonnenuntergang kein Urtheil ab-
geben. Es war ihnen vorgeschrieben, dem
Beschuldigten völlige Freiheit der Ver-
theidigung zu gewähren, und es ist nicht
wahrscheinlich, dass sie ihn prügelten und
anspieen. Auch ist es durchaus nicht glaub-
würdig, dass ein römischer Statthalter
seine Entscheidung einem lärmenden
Pöbel, den er aufs tiefste verachtete,
unterworfen und auf dessen Geschrei hin
einen Unschuldigen verurtheilt hätte. Alles
dies aber wird nicht nur klar, sondern
selbstverständlich, wenn wir den tiefen
Sinn dieser Allegorie verstehen, auf den
wir weiter unten zurückkommen werden.
Auch über die Zeit und den Ort, wo
diese Kreuzigung stattgefunden haben soll,
sind die Autoritäten ganz ungewiss und
widersprechen sich gegenseitig. Dass die
Orte, welche man den Fremden in Jeru-
salem zeigt, nicht die richtigen sind, da-
rüber herrscht heutzutage kein Zweifel.

Es ist natürlich nicht unsere Absicht,
den christlichen Mythus zu untergraben
oder zu beseitigen und dadurch dem Un-
glauben eine Stütze zu geben, wohl aber
wird eine vorurteilsfreie Untersuchung
dazu dienen, eine höhere Auffassung an
die Stelle einer niederen und beschränkten
zu setzen. Den ersten Christen, wozu die
Essäer zu rechnen sind, wie auch den
Eingeweihten aller Bekenntnisse war und
ist die geheime Bedeutung dieser Symbole
wohl bekannt, aber für die große, gedanken-
lose Menge musste und muss theilweise
jetzt noch eine äußerliche und verkehrte
Auffassung platzgreifen, wenn sie nicht dem
Unglauben verfallen soll; denn sie ist un-
fähig, das Wahre, zu dem sie sich nicht er-
heben kann, zu erfassen, und die Kirche ver-
löre den größten Theil ihrer Anhänger, wenn
sich ihre Tröstungen auf die Segnungen
beschränken würden, die jeder in sich
selber erringen muss. Die Menschen sind
heutzutage noch immer so beschaffen,
dass jeder eher an alles andere, als an
sich selber glaubt, und jeder es bequemer
findet, von außen und durch Andere Hilfe
zu suchen, als selber den Weg zu gehen,
der allein zum Ziele führt und der in
der Bibel als die Leidensgeschichte Jesu
sinnbildlich dargestellt ist.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 132, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0132.html)