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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 133

Text

HARTMANN: DIE GEHEIME BEDEUTUNG DES KREUZES.

In der That stellt diese Leidensge-
schichte eine ewige Wahrheit dar; eine
Thatsache, die nicht nur einmal in Palä-
stina geschehen ist, sondern sich beständig
im großen Weltall, sowie im einzelnen
Menschen vollzieht. Nicht nur lehren es
die heiligen Schriften aller Völker, sondern
auch die ganze Natur, wenn wir sie richtig
verstehen, gibt uns Zeugnis davon, dass
»das Wort Fleisch geworden« ist zu
unserer Erlösung; denn der Logos ist
das organisierende Princip in allen Formen,
vom Atom bis zum Sonnensystem, im
Geistigen (im Himmel) sowohl, als im
Materiellen (Irdischen), und durch das
Wort, welches Gott ist, ist »alles ge-
macht, was gemacht ist«; es ist die Ur-
kraft aller Evolution und ohne dasselbe
ist nichts entstanden (Johannes I, 1—3).

Das Kreuz bedeutet das Herabsteigen
des Geistes in die Materie. Der horizon-
tale Strich deutet das Reich des Materiellen
an, der senkrechte Strich den durch-
dringenden Geist. Diese Durchdringung
aber hat den Zweck, die in der Materie
schlummernde Kraft zu erwecken und in
Thätigkeit zu versetzen. So erweckt das
Licht, wenn es von der jungfräulichen
Natur empfangen wird, das Leben der
Natur aus seinem Winterschlafe und der
Geist Gottes die Seele des Menschen zum
Bewusstsein ihrer Unsterblichkeit. Deshalb
ist das Kreuz das Zeichen der Evolution
und das Symbol der Erlösung durch die
Erweckung des göttlichen Lebens in der
Seele des Menschen und ihres geistigen
Wachsthums, das, wie jedes organische
Leben, von innen nach außen wirkt. In
den Symbolen der christlichen Kirche ist
dieses geistige Erwachen oft durch Strahlen
angedeutet, die von dem Mittelpunkt des
Kreuzes ausgehen, dort, wo sich die beiden
Linien durchschneiden, und die »Rosen-
kreuzer« des Mittelalters brachten dort
eine Rose an, als Sinnbild der Weisheit,
die durch den Einfluss der göttlichen
Liebe im Herzen des Menschen erblüht
und sich offenbart.

Diese Erweckung des Gottesbewusst-
seins im Menschen ist seine Erlösung. Sie ist
aber auch nöthig, um diese Vorgänge nicht
bloß als Theorien aufzufassen, sondern
sie richtig zu begreifen und praktisch
zu erleben. Deshalb gehören diese Lehren

auch nicht der alltäglichen Wissenschaft
an, und eine dürre philosophische oder
theologische Speculation bringt kein wahres
Verständnis dafür, wohl aber die eigene
innerliche und geistige Erfahrung. Diese
Dinge sind heiliger Natur, und es gehört
ein gewisser Grad von innerlicher Heili-
gung dazu, um jene innerliche Erfahrung
zu machen, welche nöthig ist, um dieselben
klar zu erfassen. Sie gehören, mit anderen
Worten, der höheren Wissenschaft an,
welche deshalb die »höhere« genannt
wird, weil sie aus der Erkenntnis der-
jenigen hervorgeht, welche vom Geiste
der Wahrheit durchdrungen, erleuchtet
und innerlich erweckt wurden, und dadurch
auf eine höhere Stufe der Evolution und
Selbsterkenntnis gelangt sind.

Die Weisen und Heiligen aller Völker,
die indischen Yogis sowohl, als die Budd-
histen und christlichen Mystiker lehren,
dass im Laufe der großen Evolution des
Weltalls gleichsam drei Ausgüsse der Gott-
heit stattfinden. Im Griechischen werden
dieselben als die drei Logoi, in der
christlichen Lehre als »Vater, Sohn und
heiliger Geist« bezeichnet. Der erste Logos
oder der »Vater« ist der allgegenwärtige
Geist (Atma), aus dem alles entspringt
und welcher deshalb mit Recht als der
»Vater« von allem bezeichnet wird; der
zweite Logos oder der »Sohn« ist die
monadische Essenz, das organisierende
Princip im Kosmos (Buddha); der dritte
Logos oder der »heilige Geist« (Monas)
das alles belebende Princip, welches vom
Vater durch die Vermittlung des Sohnes
zu uns kommt. Alle drei Logoi sind aber
nicht dem Wesen nach von einander ver-
schieden, sondern nur drei verschiedene
Aspecte oder »Personen« (von »persona«
— Maske) des Ewig-Einen, der alles in
allem ist. Sie sind wie Gedanke, Wort
und Offenbarung, Eins, wenn das Wort
die Offenbarung des Gedankens ist und
der Gedanke durch das Wort zur That
wird.

Wie C. P. Heinrich in seinem »Ge-
setz des Lebens« durch Anführung ver-
schiedener Bibelstellen nachgewiesen hat,
ist »der Vater der allerheiligste, reinste
Urgedanke, der Inbegriff alles Seins, die Ur-
quelle und Gnadensonne der reinsten Liebe
und Weisheit, der Mittelpunkt alles Lebens,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 133, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0133.html)