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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 134

Text

HARTMANN: DIE GEHEIME BEDEUTUNG DES KREUZES.

das geistige Licht der Urgrund und das
zeugende Princip der Gottheit; der Sohn
ist der Ausdruck dieses Gedankens, das
Wort, die Urkraft alles Lebens; der heilige
Geist ist der Geist der Wahrheit, der
gemeinsame Ausfluss von Vater und Sohn,
die Wirkung von Gedanke und Wort, die
Offenbarung Gottes. Er ist das göttliche
Wesen, insofern er sich in den reinsten
Formen der gesammten Schöpfung, ins-
besondere aber im Menschen kundgegeben
und geoffenbart hat«. — Dass die Welt,
respective die moderne Wissenschaft, nichts
davon weiß (Johannes, XIV. 17) thut
nichts zur Sache. Diese Einheit des
Wesens der heiligen Dreieinigkeit sollte
niemals außeracht gelassen werden, um-
somehr, als die vermeintliche Trennung
der drei Aspecte oder Wirkungsweisen
der Gottheit schon viel Unheil in der Welt
angerichtet hat. Sie sind ebenso unzer-
trennlich von einander, als die drei Seiten
eines Dreiecks, und auch der Mensch wird
erst dann vollkommen werden, wenn in
ihm die Einheit der heiligen Dreifaltigkeit
wieder hergestellt ist, d. h. wenn sein
Wort der reine Ausdruck seines Gedankens
ist und zur That wird.

Vater, Sohn und heiliger Geist sind
keine uns fremde und ferne stehenden Dinge.
Der Vater ist der Grund unseres eigenen
Daseins, in uns selbst ist der Sohn ge-
kreuzigt, wir selbst sind das Kreuz, und
die Hoffnung unserer Erlösung ruht in
dem in uns selbst wirkenden heiligen
Geiste der Wahrheit, durch den allein wir
zur wahren Selbsterkenntnis gelangen
können. Solange aber die Welt in dem
Symbol des Kreuzes nichts anderes sieht,
als den Hinweis auf die Hinrichtung eines,
wenn auch gottähnlichen, doch immerhin
sterblichen Menschen, solange wird auch
diese beschränkte Auffassung der Aus-
breitung des wahren Glaubens hinderlich
sein; die furchtsamen Frommen werden
in ihrem Wahne stecken bleiben und die
»Aufgeklärten«, welche von dem geheimen
Sinne der Symbole nichts wissen, werden
das Kind mit dem Bade ausschütten und
alles, was gerade über ihren zeitweiligen
Horizont geht, verwerfen. Wir selbst sind

das Kreuz, zusammengesetzt aus verkehrten
Begierden und irrigen Meinungen, welche
uns hindern, zur wahren Selbsterkenntnis
zu kommen. Unser göttliches Selbst ist
es, das gleichsam in diesem Stalle geboren
und an dieses Kreuz gefesselt ist und den
Weg gehen muss, der sinnbildlich in der
angeblichen Lebensgeschichte von Jesus
von Nazareth dargestellt ist. Die Pharisäer
und Heuchler sind die Scheintugenden,
welche der auf Selbstwahn beruhenden
Selbstherrlichkeit entspringen, und an
»Schriftgelehrten«, die nichts wissen, als
was sie irgendwo gelesen haben, leiden
wir auch heute noch keinen Mangel. Die
Wunder, welche Christus bewirkte, voll-
bringt er auch heute noch; die Erkenntnis
der Wahrheit macht Blinde sehend, sie
heilt die Krankheiten der Seele und des
Körpers, das Erwachen des göttlichen
Lebens macht »Aussätzige« rein und er-
weckt die geistig Todten zum wahren
Bewusstsein. In ihr erstirbt unsere ange-
nommene Eigenheit und in ihr feiern wir
unsere Auferstehung, wenn der Stein des
Irrthums, der das Grab der Nichterkenntnis,
in welchem wir gefangen sind, hinweg-
gerollt wird.*

Dass das Symbol der Kreuzigung sich
nicht auf ein »historisches« Ereignis in
der Geschichte der Juden bezieht, davon
zeugen auch die ältesten Bilder derselben,
in denen der Gottmensch nicht an das
Kreuz befestigt, sondern an demselben
stehend und die Arme wie Segen spendend
ausbreitend, dargestellt ist. Auch heute
noch finden sich, besonders im bairischen
Hochlande, viele Crucifixe mit den Sym-
bolen der Kreuzigung, welche auf einen
geheimen Sinn hindeuten. Wir sehen da
unter anderem den Hahn auf der Spitze,
welcher den Anbruch des Tages der
Erkenntnis verkündet; die drei Nägel
bedeuten die drei Hauptleidenschaften,
welche den Menschen an das irdische
Dasein fesseln: Selbstsucht, Wollust und
Zorn; der Schwamm mit Essig die Un-
zulänglichkeit des zusammengebrauten
Gelehrtenkrams, welcher der nach Er-
kenntnis der Wahrheit dürstenden Seele
von der Welt dargeboten wird; der

* Siehe: F. Hartmann: »Jehoschna, der Prophet von Nazareth«. Leipzig.
W. Friedrich.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 134, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0134.html)