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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 135

Text

HARTMANN: DIE GEHEIME BEDEUTUNG DES KREUZES.

Hammer, mit welchem die Nägel im
Fleische befestigt werden, ist der Eigen-
wille des Menschen selbst; die Dornen-
krone bedeutet die Leiden, welche er sich
selbst infolge seiner Irrthümer zuzieht,
u. s. w. Bei einer nur geschichtlichen Dar-
stellung eines solchen Ereignisses würden
diese Beigaben schwerlich in Betracht
gekommen sein.

Aber die Darstellung der Kreuzigung
hat noch einen anderen, weniger bekannten,
geschichtlichen Grund, dessen Kenntnis
vieles klarmachen wird, was in diesem
Symbol und im christlichen Glaubens-
bekenntnisse noch allgemein missverstanden
wird. In den egyptischen Mysterien wurde
nämlich der zur Einweihung bestimmte
Candidat auf ein Kreuz gelegt, welches
theilweise ausgehöhlt war, um seinen
Körper aufzunehmen. So musste er drei
Tage und drei Nächte in einem unter-
irdischen Gemach zubringen. Während
dieser Zeit verfiel er in einen Zustand
von Traum oder Somnambulismus, d. h.
während sein Körper in einem scheintod-
ähnlichen Schlafe lag, bewegte er sich in
seinem Astralkörper mit vollem Bewusst-
sein in der Astralwelt, lernte dort die
Geheimnisse der Unterwelt kennen und
bestand dort die Prüfungen, von welchen
in den Beschreibungen der alten Mysterien
häufig die Rede ist, eine Ceremonie, die
noch heutzutage unter den Freimaurern
eine allerdings sehr verzerrte Nachahmung
findet.

Aus dem Wenigen, was uns durch
Überlieferungen von der Lebensgeschichte
von Jesus von Nazareth bekannt geworden
ist, geht hervor, dass er ein Mitglied des
religiösen Ordens der Essäer war und in

Egypten in die Mysterien eingeweiht
wurde. Daher wird von ihm mit Recht
behauptet, dass er zur Hölle (der unteren
Astralregion) hinabgestiegen und am dritten
Tage wieder »auferstanden«, d. h. aufge-
wacht sei. Manches andere aber, was
sonst noch in dem Glaubensbekenntnisse
der christlichen Kirche behauptet wird,
beruht theils auf Missverständnissen, theils
auf falschen Übersetzungen der ursprüng-
lichen Documente.*

Dass es religiöse Geheimnisse gibt,
wird jedermann zugeben, und dass für
deren Verständnis noch nicht jeder reif
genug ist, unterliegt auch keinem Zweifel.
Trotz der großen Menge metaphysischer,
occulter und mystischer Schriften ist für
die Mehrzahl unserer Physiker derjenige
Theil der Naturwissenschaft, welcher sich
auf die »Astral-Ebene« oder »übersinnliche
Welt« bezieht, noch ein gänzlich unbe-
kanntes Gebiet, und was für jeden, der
darin eigene Erfahrungen besitzt, eine
ganz natürliche Sache ist, gehört für sie
in das Reich der Fabel; die Mehrzahl
der »Frommen« aber nimmt mit einem
phantastischen Himmel und missver-
standenen Dogmen vorlieb, hofft auf Hilfe
von außen, weil es ihr an eigener Kraft
mangelt, und findet es bequemer, das
Denken anderen zu überlassen, als selbst
nach der Wahrheit zu forschen. Wir
wollen sie in ihren Träumen nicht stören.
Aber für diejenigen, welchen der moderne
Unglaube sowohl, als der Aberglaube nicht
mehr behagt, mag vielleicht das Gesagte
ein Fingerzeig sein, dass die Symbole
der Religion sich auf ganz andere Dinge
beziehen, als man gewöhnlich denkt.

* Vgl. Leadbeater: »The Christian creed«. — London, Theos. Publ. Co.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 135, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0135.html)