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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 136

Text

RUNDSCHAU.

Gustav Mahler: »Das klagende
Lied
.« — Mahler gehört nicht zu jener
Heerschar neudeutscher Componisten, die
nur auf das dienstbereite Blech des
Orchesters bauen, das die lahmen Rhyth-
men gütig mit seinen pompösen Klängen
zudeckt. Seine Dichtungen dürfen sich nicht
scheuen, nackt vor uns hinzutreten; viel-
leicht könnten sie das Kleid der Musik
entbehren, ohne deshalb aufzuhören, Kunst-
werke zu sein.

»Das klagende Lied« stammt aus
den Achtzigerjahren und lässt die Hand
des Bruckner-Schülers erkennen. Die In-
strumentation ist ohne die bizarre Üppig-
keit der hypermodernen Instrumentations-
Technik.

Über die quantitativen Grenzen
des Instrumentalen ist bereits viel ge-
redet worden — seit Berlioz bis auf
Richard Strauß, aus dem sich
vielleicht die Regel deducieren lassen
dürfte, dass die Darstellung des Primi-
tiven
, ebenso wenig wie die des
Complicierten
, eine Function der
Stimmenanzahl allein sein kann. Das
Volkslied der Renaissance ist fünfstimmig,
— vieles in der Tetralogie (trotz des
scheinbar polyphonen Baues) wesentlich im
homophonen Geiste entworfen. Dass die
Romantiker — vor allen Weber und
Schumann — die tiefsten Innerlichkeiten
durch Zurückgehen auf das naive Element
des echten Volksliedes darzustellen vermocht
haben, ist andererseits aber ein wertvoller
Fingerzeig in der Behandlung des Pro-
blems.

Doch, um auf das »klagende Lied«
zurückzukommen: Die Dichtung ist nicht
eigentlich im classischen Sinne durch-
componiert, eher könnte man die originelle
Art der Behandlung als Illustration oder
Untermalung des Textes bezeichnen. Vier
Solostimmen (merkwürdigerweise mit ge-
doppeltem Sopran ohne Bass) tragen
das Gedicht abwechselnd declamatorisch
vor, und werden nur stellenweise durch

den Chor abgelöst, der zusammen mit
dem Orchester den Stimmungs-Untergrund
bildet und die Zeichnung färbt. Die Chor-
partie ist recht spärlich bedacht, so dass
sich der kolossale Aufwand an Stimmen-
Material (verstärkte Singakademie und
Schubertbund) wohl nur aus dem Wunsche
des Componisten erklären lässt, den
Kampf zwischen Chor und Orchester zu
Gunsten des ersteren zu entscheiden. Die
Vertheilung des Textes an die Solostimmen
erfolgt mit Bevorzugung des Alt will-
kürlich. So können die Singstimmen nicht
im strengen Oratorien-Stil als Individuen
aufgefasst werden, sondern nur als Contour-
Linien des farbenreichen Gemäldes.

E. L.

Pierre Maurice. Sein erstes Theater-
werk (Jephté) erzielte vergangenen Herbst
unter Mitwirkug der ausgezeichneten
Emilie Herzog in Zürich großen Erfolg.
Vergangenen Freitag wurde im kgl. Odeon
sein letztes Orchesterwerk: Francesca
da Rimini
, symphonische Dichtung
nach Dantes
»Hölle« gegeben, eine sehr
geschlossene, innig empfundene Compo-
sition, die ein sehr echtes und vielver-
sprechendes Talent verräth. Als Text hat
Maurice folgende Verse aus dem V. Ge-
sang gesetzt, die ich deshalb citiere, weil
sie für den richtigen und echten Sinn
des Componisten bezeichnend sind, der
in ihnen dasjenige musikalische Element,
das in einer Dichtung beruhen kann,
lebenbringend erfasste.

O Dichter, gern spräche ich mit jenen Beiden,
Die zusammen gehen und also leicht
Im Windhauch sich bewegen
O leidbeschwerte Seelen!
Sprecht doch mit uns, wenn es euch niemand
wehrt.



Wie Tauben, vom Verlangen ausgetrieben
Zum süßen Nest mit weiten, sich’ren Flügeln,
Vom Wunsch getragen, durch die Luft hineilen,
So trennen sie vom Schwarm sich durch die
Schnöde Luft

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 136, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0136.html)