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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 151

Text

NAIVE UND KÜNSTLERISCHE SENSIBILITÄT.
Von A. GUREWITSCH (Baugy sur Clarens).*

Es gibt eine naive und eine künst-
lerische Sensibilität. Die erste ist mit
Unlust, Begierde, Unruhe, Angst, Ver-
wirrung, Leidenschaft, Hass, Verletztheit,
Übelwollen, böser Absicht, Schadenfreude,
innerer Spannung, Gestörtheit, Hem-
mung, Ablenkung der Aufmerksamkeit,
Zwang, Unklarheit u. s. w. u. s. w. ver-
bunden. Die künstlerische Sensibilität ist
dagegen sachversunken und lust-
durchdrungen
. Ein Geschmack, ein
Geruch, ein Laut, eine Farbe, eine Form,
ein Gegenstand, ein Wort, ein Gedanke,
ein Gespräch, ein Gefühl, ein Wille —
finden in der Seele keine Hindernisse und
Störungen zu ihrer vollen Geltendwerdung,
zu ihrer vollkommenen, gleichsam plasti-
schen Eindringung und Einprägung in
unserem Innern; wir versenken uns unbe-
schränkt von innen und von außen in die
Sache, wir gehen in ihr auf und empfinden
eine umso intensivere und reinere Lust, je
vollkommener und reiner wir in der Sache
versunken sind.

Die Erreichung der vollkommenen
künstlerischen Sensibilität bedeutet die voll-
kommene innere Befreiung. Sie bedeutet
aber auch die Vernichtung aller persön-
lichen Widerstandskraft und aller äußeren
Wehrhaftigkeit, den persönlichen Unter-
gang in der Vollendung, in der Seligkeit
der Vollendung, in vollkommener Wesens-
einheit mit allem, was ist. Die voll-
kommene künstlerische Sensibilität bildet
den diametralen Gegensatz zu der voll-
kommenen naiven Sensibilität, welche,
weil persönlich, innere Unfreiheit und
äußere Disharmonie ist. Die vollkommene
naive Sensibilität ist ebenfalls Widerstands-

und Wehrlosigkeit, sie bedeutet auch den
unvermeidlichen Untergang, aber — in
Entsetzen und Feindschaft, in Krampf und
Kampf, in der Finsternis. Hie — schmerz-
knirschende Verkennung, da — wonne-
trunkene Auflösung! Und doch ist viel-
leicht vollkommene naive und vollkommene
künstlerische Sensibilität nach außen
und nach innen
, für sich und für
anderes vollkommen eins
.

Es ergänzen und beschränken sich
daher gegenseitig naive und künstlerische
Sensibilität im Laufe des Lebens. Die
Bewegung von der ersten zur zweiten ist
Fortschritt und Läuterung, die umgekehrte
Bewegung ist Rückschritt und Verfall.
Aber Bedingung des Lebens ist auf jeden
Fall, dass die eine der anderen die Wage
halte; das Gleichgewicht darf und muss
verschoben, es darf nicht aufgehoben
werden. Und seine Aufhebung ist doch
so unvermeidlich, wie der Tod, so urbe-
gründet, wie die Ewigkeit des Lebens.
Die Welt ist eben kein gerader Weg, kein
übersichtliches Gebäude, kein klares Ziel
und keine eiserne Nothwendigkeit; sie ist
ein unentwirrbarer Knäuel, ein flaches
Gewölbe, ein quadratischer Kreis, ein ewig
sich selbst unklares Wollen, eine tanzende,
schwankende, fallende Nothwendigkeit. Sie
ist das ewige Sichfliehen und das ewige
Sichfinden von Anschauung, Gedanke,
Gefühl, Wille, Wirklichkeit, Individuum,
Universum, Identität, Gegensatz, Wahrheit,
Irrthum, Causalität, Relativität, Rangord-
nung, Mysterium, Parallelismus, Wechsel-
wirkung, Beharrung, Veränderung, Conti-
nuität und Entwicklung.

* Vom selben Verfasser erscheint demnächst »Der gegenwärtige Zustand der Sociologie«.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 151, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0151.html)