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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 152

Text

WIE VERSETZT MAN SICH IN DIE PERSÖNLICHKEIT
EINES ANDEREN?*
Von GUSTAV BRIDIER (Esthland).
Übersetzt von Isabella Ungern-Sternberg . I.

Das Princip der Analogie ist, wo
nicht die einzige Grundlage der Schrift-
deutung, so doch der Haupt- und Eck-
stein, auf dem sie sicher fußt. Auch ab-
gesehen von der Graphologie, beruht
unser Erkennen auf Analogieschlüssen.

Zwischen zwei Wesen, die nichts mit
einander gemein hätten, ist weder Ver-
ständigung, noch sonst irgendeine Be-
ziehung möglich. Leibnitz zufolge ergibt
sich die Möglichkeit der Wissenschaft nur
aus der Wesensgleichheit aller Dinge in
der Natur. — Wo sich daher der Mensch
bestrebt, die Natur derjenigen Wesen zu
erforschen, zu denen er durch Vermittlung
der Sinne in Beziehung tritt, wird er dies,
bewusst oder unbewusst, nur mittelst jenes
großen Gesetzes der Analogie thun können,
welches das ursprüngliche Gesetz aller
Wissenschaften, also auch der Grapho-
logie, ist.

Mich dünkt es von Übel, hier noch
weiter zu untersuchen, ob wir deshalb
in dem Studium des Geistes den Schlüssel
alles Bestehenden finden können, weil der
Geist die einzige Realität ist, deren Natur
uns durch das Bewusstsein zugänglich wird.

Und obschon das »Erkenne dich
selbst«, jene alte Formel des Sokratus,
sich scheinbar vom Grundsatze der Wesens-
ähnlichkeit herschreibt, daher sie der
Begründer der Graphologie zum Wahl-
spruche erwählt hatte, möchte ich doch
einigermaßen Verwahrung gegen denselben
einlegen, hinsichtlich seiner Tragweite und
Ausdeutung.

Wie dem auch sei, das Gesetz der
Wesensähnlichkeit bleibt bestehen als
Grundstock aller Sympathie; aus ihr aber
ergibt sich neben anderen Folgerungen
auch die Möglichkeit der Schriftdeutung.

Wie sagt Vanvenarque:

»In uns selbst entdecken wir, was
uns die Andern verbergen; in den Andern
hingegen erkennen wir, was wir uns selbst
verhehlen.«

II.

Das Mitleid, welches uns eigenen
Schmerz im Leiden Anderer empfinden
lässt, im Unglücke des Nächsten die
Ahnung eines auch uns bedräuenden Un-
heils bewirkt, ist mit nichten die einzige
Art von Sympathie, wofern wir dies
Wort in seiner weitesten Bedeutung fassen.

* Das einzige Mittel, um Graphologie zu treiben, d. h. um aus einer Handschrift Ein-
sicht zu gewinnen in den Charakter des Urhebers, besteht darin, seinen Intellect mit demjenigen
des Schreibers zu indentificieren, ein Punkt, in dem bis jetzt alle Schriftdeuter, zumindest
implicite, übereinstimmen. Wofern ich von wenigen Ausnahmen absehe, ist ihr Verfahren
indes bis auf den heutigen Tag mehr intuitiv als überlegt gewesen; meist auch haben sie das
Erschaute auf dem Gesichtssinn allein gegründet. St. Thomas gleich in ihrem Glauben, dass
die sichtbare Hülle allein das höchste Maß an Wahrheit und Thatsächlichkeit in sich schließe.
Somit wäre füglich in dieser Frage mehr Gründlichkeit am Platze, als man ihr bis heute hat
angedeihen lassen. Es gilt, den Ursprung dieser Hineinversetzung herzustellen, sodann aber
schärfer und genauer, als es bisher geschehen, jenes Verfahren darzulegen, mittelst dessen
diese Verschmelzung vor sich geht. Alle bisherigen Schriftsteller sind viel zu flüchtig darüber
hinweggeglitten, haben sozusagen diese Einleitung zur proteusgleichen Graphologie nur ge-
streift, obschon die Werke von Crepieux-Jannu, sowie die »Méthode« von Michon förmlich
strotzen von Belehrungen und Unterweisungen in Bezug auf die praktische Ausübung.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 152, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0152.html)