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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 153

Text

BRIDIER: WIE VERSETZT MAN SICH IN DIE PERSÖNLICHKEIT EINES ANDEREN?

Auf dem Gebiete des Hypnotismus
ist man sich der ganzen Bedeutsamkeit
dieses Gesichtspunktes bewusst, was die
Auslegung von Mienen und Geberden,
die Deutung von Gang und Körperhaltung
betrifft. So weiß man, dass keine Erschei-
nung der Mimik vor sich gehen kann,
ohne unverzüglich, auf dem Wege der
Reflexbewegung, andere hierauf bezüg-
liche Bewusstseinszustände hervorzurufen;
ja diese biologische Thätigkeit ist einer
so allgemeinen Anwendung fähig, dass
auch außerhalb des Hypnotismus, bei den
Vorgängen des täglichen Lebens, es unmög-
lich ist, zu unterscheiden, ob das Gefühl
die physiologischen Äußerungen bewirkt,
oder ob im Gegentheil diese das Gefühl
bedingen — so sehr verschmelzen die
objectiven und subjectiven Erscheinungen
zu einem untheilbaren Ganzen, das eben
die Gemüthsbewegung selbst ist.

Wenig kommt es schließlich darauf
an, ob das eine oder das andere Ursache
oder Wirkung darstellt, oder ob sie sich
gegenseitig als Ursache und Wirkung aus-
lösen; fest steht, dass man das eine nicht
erregen kann, ohne das andere hervor-
zurufen. Man kann nicht auf die Gefühls-
erregung oder auf den Ausdruck derselben
einwirken, ohne gleichzeitig auf deren
physiologische und psychologische Ergän-
zungen Einfluss zu üben.

Diese Thatsache lässt der Hypnotismus
besonders scharf hervortreten, indem er
sie intensiv vergrößert; es wäre über-
flüssig, weiterhin zu bemerken, dass diese
wechselseitige Reaction nur deshalb mög-
lich ist, weil Physis und Psyche Analo-
gien miteinander aufweisen.

Auch dies sind Sympathie-Erschei-
nungen. Der beste Theil vom Talent eines
Graphologen besteht in der ursprünglichen
oder durch Übung erworbenen Fähigkeit,
sich in die Seele desjenigen hineinzudenken,
dessen Schrift er einer eingehenden Deu-
tung unterzieht; auch dies ist sonder Zweifel
Sache der Sympathie.

III.

Offenbar besteht die erste Bedingung
dieser Identification in der genauen Kennt-
nisnahme der zu erforschenden Schrift,
nicht nur vermittelst des bloßen Auges,
vielmehr bewaffnet mit Lupe und Mikro-
skop, die beide im wahren Sinne des
Wortes Werkzeuge des Graphologen sind.
Dem ersten synthetischen, das Ganze
umfassenden Blick folge die Berücksichti-
gung und Erforschung der Einzelheiten,
wobei man vermeiden muss, sich in der
Scheidemünze der kleinen Zeichen aus-
zugeben und zu verkrümmeln.

Alles in allem stellt dies nur eine ein-
leitende Operation dar, der sich Unter-
suchungen und Prüfungen, desgleichen eine
Sichtung des Bestandes anschließen muss,
sowohl was die allgemeinen Grundzüge,
als auch was die kleinen Zeichen anbetrifft. —
Die Schrift anschauen ist gut, noch besser
aber, durch Versenken in dieselbe sie auf
uns wirken lassen, woran sich die Zer-
legung des lebenden Organismus in seine
Elemente schließt. Damit das Charakter-
bild plastisch sich gestalte, hebe man
zunächst die großen Linien, gleichsam das
Skelet der Persönlichkeit heraus, daran
sich Zug um Zug die nebensächlichen
Eigenthümlichkeiten schließen mögen, je
nach ihrer Zugehörigkeit gruppiert. Dies
heißt die Schrift einer wirklich genauen
und gewissenhaften Analyse unterziehen.
— Aber all dies genügt noch nicht, um
von vorneherein, ohne Zaudern, den
Grundzug herauszufinden, dessen wir zur
richtigen Charakterisierung der zu unter-
suchenden Schrift bedürfen und dessen
Erkenntnis uns allein ermöglicht, »das
Leben der Zeichen mitzuleben« — wie
sich Crépieux-Janun so treffend ausdrückt,
— um den Symbolismus derselben geläufig
zu entziffern.

Bevor man es versucht, deren Werte
in die definitive Synthese einer Skizze oder
eines ausgeführten Charakterbildes zu-

* Beide, das Gefühl und der Ausdruck desselben, bedingen einander und steigern sich
gegenseitig.

»Der Zorn entstellt die Geberde also, dass sie scheußlich wird wie ein Sack«, heißt es
in der Schrift (Jesus Sirach). Wer diesen physiologischen Ausdruck nicht stark in Schranken
hält, dem gestaltet sich der Zorn in der That zu einer kurzen Raserei. Wer aber, dessen ein-
gedenk, bei berechtigtem Zürnen seine Stimme zu einem leisen Schelten herabstimmt und
seine Mienen zügelt, der wird an sich selbst erfahren, wie die subjective Erregung verblasst.

(Anm. d. Übers.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 153, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0153.html)