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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 154

Text

BRIDIER: WIE VERSETZT MAN SICH IN DIE PERSÖNLICHKEIT EINES ANDEREN?

sammenzufassen, bevor man mit mehr oder
minder Glück die Physiognomie wieder auf-
baut, deren schriftliche Ausprägung der
Gegenstand unserer Untersuchung gewesen
ist und deren Bestandtheile all verzeichnet
worden sind — je nach Gattungen und
Species, auf dem hiezu bestimmten Auszug-
bogen — dürfte es ersprießlich sein, die
sich aus jenem rudimentären Identifications-
verfahren ergebenden Thatsachen durch
scharfes Ins-Auge-fassen, sei es nun mittelst
des unbewaffneten Auges, sei es vermöge
des Vergrößerungsglases, kräftiger hervor-
treten zu lassen.

In Anbetracht der oben erwähnten
sympathischen Reflexbewegungen besagt
»ein Ding anschauen« dasselbe wie »das
in Augenschein genommene Ding mit dem
Gedanken erfassen«; hinblicken und der
Schriftformen gedenken, heißt sie mehr
oder minder »im Geiste ausführen«.

Und da, wie Setscheneff erhärtet, es
kein Bewusstsein ohne entsprechenden
Ausdruck gibt, da kein Zustand des Be-
wusstseins ohne die Begleiterscheinung
irgendeiner Vorstellung auftritt, die durch
Auge, Ohr u. s. w. vermittelt werden —
Vorstellungen, die sich wiederum mit
anderen, als Triebkraft wirkenden Erschei-
nungen verknüpfen, so heißt eine Schrift-
form ansehen nicht allein sie intellectuell
ausführen; der Graphologe lässt damit
noch den Anhang einer Systematisation
jener Bewegungen über sich ergehen
behufs der Vergegenwärtigung oder des
Nachzeichnens.

Factisch schätzen wir eine Form nicht
richtig, wofern wir ihren Umrissen ledig-
lich mit dem Auge folgen, wohl aber,
indem wir uns mit größerer oder geringerer
Klarheit der Muskelbewegungen bewusst
werden, die wir in Anwendung bringen
müssten, um jene Form abzuzeichnen; es
ist erwiesen, dass das Organ des Gesichts
auf das innigste speciell mit den Greif-
und Gefühlswerkzeugen verbunden ist.*

Um die graphischen Formen ist es
ebenso bestellt; was sich einst zugetragen
hat, da die Schrift entstand, da die Er-

findung sich an ihrem organischen Wachs-
thum betheiligte, das begibt sich heute
aufs neue an jedem Schreibenden bei
Herstellung der schriftlichen Formen.

Ein Kind, das wir vor eine Schreib-
vorlage setzen, wird in gleicher Weise,
wie seine in altersgraue Vergangenheit
zurückreichenden Vorfahren zur Nach-
ahmung derselben bewogen. Beim An-
schauen der Gegenstände haben sich un-
bewusst die Handbewegungen, bezwecks
des Nachzeichnens, den Umrissen der
Dinge angepasst; diese Anähnlichung in
entlegener Vorzeit gab Anlass zur Bilder-
und Hieroglyphenschrift, deren Spuren
sich zu Anfang jeder phonetischen Schrift
mit Leichtigkeit nachweisen lassen.

IV.

Dem Gesetz der Sympathie zu folgen,
wie es sich auch im Bereich der ge-
schriebenen Sprache bethätigt, hat der
Anblick der Gegenstände als auslösender
Reiz auf die Nachschaffung der mit dem
Auge und dem Gedanken aufgefassten
Formen gewirkt; sodann aber haben, in
sehr hohem Maße, diese erschauten und
gedachten Formen jene correspondieren-
den Muskelbewegungen hervorgerufen,
welche die ursprünglichen Elemente der
phonetischen Schrift gebildet haben.

Im menschlichen Organismus beruht
alles auf Wechselwirkung; wird er auf einem
Punkte erschüttert, so strahlt diese Er-
schütterung, bewusst oder unbewusst, nach
allen Richtungen und auf alle Punkte des
Organismus aus, als Folge der Symmetrie
in gewissen Wechselbeziehungen.

So verträgt ein Spinngewebe nicht
die leiseste Berührung mit der Fahne
einer Feder an irgendeinem seiner Fäden,
ohne dass sich an der Oberfläche des
Gewebes eine mehr oder minder merk-
liche Schwingung fortpflanzte, die, wie
geringfügig sie an sich sei, stets auf den
Mittelpunkt zurückwirkt.

* Diese spätere wissenschaftliche Erkenntnis hat Goethe vornweg genommen in den
»Römischen Elegien«:

»Sieh’ mit fühlendem Aug’,
Fühle mit sehender Hand.«

(Anm. d. Übers.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 154, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0154.html)