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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 160

Text

MAETERLINCK: DER GEIST DER BIENEN.

doch wenigstens das Trachten nach
ihr. Ich werde im folgenden also nichts
vorbringen, was ich nicht selbst erprobt
habe oder was von den Classikern
der Bienenkunde nicht derartig bestätigt
wird, dass jede weitere Beweisführung
langweilig würde. Ich beschränke mich
darauf, die Thatsachen ebenso zuver-
lässig wiederzugeben, nur etwas leben-
diger und mit Weiterentwicklung einiger
eingeflochtener, freierer Gedanken, so-
wie mit etwas harmonischerem Aufbau,
als dies in den Handbüchern oder den
wissenschaftlichen Monographien zu
geschehen pflegt. Wer dieses Buch
ausgelesen hat, ist nicht gleich im-
stande, einen Bienenstock zu halten,
aber er erfährt daraus nahezu alles
Merkwürdige und Tiefe und alle fest-
stehenden Einzelheiten über seine Be-
wohner, und zwar keineswegs auf
Kosten dessen, was noch zu wissen
übrigbleibt. Ich übergehe all die Fabeln,
die auf dem Lande und in vielen
Werken noch über die Bienen ver-
breitet sind. Wo Zweifel herrschen, die
Meinungen auseinandergehen, etwas
hypothetisch ist, wo ich zu etwas
Unbekanntem komme, werde ich es
ehrlich erklären. Wir werden oft vor
dem Unbekannten innezuhalten haben.
Außer den großen, sichtbaren Vorgängen
ihres Lebens weiß man sehr wenig über
die Bienen. Je mehr man sich mit ihnen
beschäftigt, umsomehr vergisst man die
Tiefen ihres wirklichen Daseins, aber
diese Art des Nichtwissens ist immerhin
besser, als die bewusstlose und selbst-
zufriedene Unwissenheit.

Gab es bisher eine solche Arbeit
über die Bienen? Ich glaube, nahezu
alles gelesen zu haben, was über die
Bienen geschrieben worden ist, aber
ich kenne nichts Ähnliches außer dem
Capitel, das Michelet ihnen am Schlusse
seines Werkes »Das Insect« widmet,
und den Essai von Ludwig Büchner,
dem bekannten Verfasser von »Kraft
und Stoff«, in seinem »Geistesleben der
Thiere«. Michelet hat den Gegenstand
kaum gestreift; Büchners Studie ist ziem-
lich erschöpfend; aber liest man all die
gewagten Behauptungen und längst
widerlegten Fabeln, die er vom Hören-

sagen berichtet, so kann man nicht
umhin, zu glauben, dass er nie seine
Bibliothek verlassen hat, um seine
Heldinnen selbst zu befragen, und dass
er nicht einen von den hundert sum-
menden und flügelglänzenden Bienen-
stöcken geöffnet hat, die man ver-
gewaltigt haben muss, bevor unser
Instinct sich ihrem Geheimnis anpasst,
bevor wir mit dem Dunstkreise und dem
Geiste des Mysteriums, das diese emsigen
Jungfrauen sind, vertraut werden. Das
riecht weder nach Honig, noch nach
Bienen, und es hat denselben Mangel,
wie viele unserer gelehrten Werke:
die Schlusse sind vielfach schon be-
kannt, und der wissenschaftliche Appa-
rat besteht aus einer riesenhaften An-
häufung von unsicheren Geschichten
aus jedermanns Munde. Indessen werde
ich ihm in meiner Arbeit nicht oft
begegnen, unsere Ausgangspunkte, An-
sichten und Ziele liegen zu weit aus-
einander.

II.

Die Bibliographie der Bienenkunde
— denn ich möchte den Anfang mit
den Büchern machen, um sie möglichst
schnell zu erledigen und zu der Quelle
zu kommen, aus der sie geschöpft sind
— ist sehr umfangreich. Von Urbeginn
an hat dies kleine, seltsame Gesell-
schaftsthier mit seinen complicierten
Gesetzen und seinen im Dunkeln ent-
stehenden Wunderwerken die Wiss-
begier der Menschen gefesselt. Aristo-
teles, Cato, Varro, Plinius, Palladius
haben sich damit beschäftigt, nicht zu
reden von dem Philosophen Aristo-
machos, der sie nach Ciceros Behaup-
tung 58 Jahre lang beobachtet hat,
oder Phyliscus, dessen Schriften ver-
loren sind. Aber das sind im Grunde
Fabeln über die Bienen, und alles, was
der Rede wert ist, d. h. so gut wie gar
nichts, findet sich zusammengefasst im
vierten Buche von Virgils »Georgica«.

Die Geschichte der Bienen beginnt
erst im XVII. Jahrhundert mit den
Entdeckungen des großen holländischen
Gelehrten Swammerdam. Jedoch, um
der Wahrheit die Ehre zu geben, muss

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 160, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0160.html)