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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 161

Text

MAETERLINCK: DER GEIST DER BIENEN.

vorausgeschickt werden, dass schon vor
Swammerdam ein vlämischer Natur-
forscher Clutius gewisse wichtige Wahr-
heiten gefunden hat, z. B. dass die
Königin die alleinige Mutter ihres
ganzen Volkes ist und die Attribute
beider Geschlechter besitzt, aber er
hat dies nicht bewiesen. Swammerdam
war der Erste, der eine wissenschaft-
liche Beobachtungsmethode einführte;
er schuf das Mikroskop, secierte die
Bienen zuerst und bestimmte endgiltig,
durch Entdeckung der Eierstöcke und
des Eileiters, das Geschlecht der
Königin, die man bis dahin für einen
König (»Weisel«) gehalten hatte. Er
warf ein unerwartetes Licht auf die
politische Verfassung des Bienenstockes,
indem er sie auf die Mutterschaft be-
gründete. Außerdem hat er Durch-
schnitte gegeben und Platten gezeichnet,
die so tadellos waren, dass man sie
noch heute zur Illustration von Werken
über Bienenzucht benützt. Er lebte in
dem geräuschvollen, trübseligen Amster-
dam von ehemals, voller Sehnsucht
nach »het zoete breiten leve«, dem
süßen Landleben, und starb im Alter
von 43 Jahren, vor Arbeit erschöpft.
In deutlicher, frommer Sprache, mit
schönen, schlichten Sätzen, in denen
er beständig Gott die Ehre gibt, hat
er seine Beobachtungen niedergelegt;
sein Hauptwerk: »Bybel der Natuure«
wurde ein Jahrhundert später von
Dr. Boerhave aus dem Niederländischen
ins Lateinische übersetzt (unter dem
Titel »Biblia naturae«, Leyden 1737).

Nach ihm hat Réaumur, derselben
Methode getreu, in seinen Gärten in
Charenton eine Menge merkwürdiger
Experimente und Beobachtungen ge-
macht und den Bienen in seinen
»Mémoires pour servir à l’Histoire des
Insectes« einen ganzen Band gewidmet.
Man kann ihn noch heute mit Erfolg
und ohne Langeweile lesen. Er ist
klar, ehrlich, gerade und nicht ohne
einen gewissen verschlossenen und
herben Reiz. Er hat es sich vor allem
angelegen sein lassen, eine Reihe von
alten Irrthümern zu zerstreuen — wofür
er freilich einige neue in Umlauf gesetzt
hat —; er gewann einen Einblick in

die Entstehung der Schwärme, die
politischen Gewohnheiten der Königinnen,
kurz, er fand verschiedene verwickelte
Wahrheiten und wies den Weg zu
anderen. Er heiligte durch seine Wissen-
schaft die architektonischen Wunder
des Bienenstaates, und alles, was er
darüber gesagt hat, kann nicht besser
gesagt werden. Man verdankt ihm
schließlich den Gedanken des Kastens
mit Glaswänden, der in seiner späteren
Vervollkommnung das ganze häusliche
Treiben dieser unermüdlichen Arbeite-
rinnen ans Licht gebracht hat, welche
ihr Werk im blendenden Sonnenschein
beginnen, aber nur im Finstern vollenden
und krönen. Der Vollständigkeit halber
wären noch die etwas späteren Unter-
suchungen und Arbeiten von Charles
Bonnet und Schirach zu nennen, welch
letzterer das Räthsel des königlichen
Eis gelöst hat; aber ich will mich auf
die großen Züge beschränken und gehe
darum zu Franz Huber über, dem
Meister und Classiker der heutigen
Bienenkunde.

Huber wurde im Jahre 1750 in
Genf geboren und erblindete schon als
Knabe. Durch Réaumurs Experimente
angeregt, die er zunächst nur auf ihre
Richtigkeit prüfen wollte, empfand er
bald eine Leidenschaft für diese Dinge
und widmete mit Hilfe eines treuen und
verständigen Dieners, Franz Burnens,
sein ganzes Leben dem Studium der
Bienen. In den Annalen des mensch-
lichen Leidens und Siegens ist nichts
rührender und lehrreicher, als die Ge-
schichte dieses geduldigen Zusammen-
arbeitens, wo der Eine, der nur einen
unstofflichen Schimmer wahrnahm, die
Hände und Blicke des Anderen, der
sich des wirklichen Lichtes erfreute,
mit seinem Geiste lenkte, und obschon
er, wie versichert wird, nie mit eigenen
Augen eine Honigwabe gesehen hat,
durch den Schleier dieser todten Augen
hindurch, der jenen anderen Schleier,
in den die Natur alle Dinge hüllt, für
ihn verdoppelte, dem Geiste, der diesen
unsichtbaren Honigbau schuf, seine
tiefsten Geheimnisse ablauschte, wie
um uns zu lehren, dass wir unter
keinen Verhältnissen darauf verzichten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 161, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0161.html)