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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 170

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WEISS: ÜBER DEN MODERNEN HOLZSCHNITT.

schesten Farbenklang, den es gibt:
Schwarz, Grün, Roth. Der Eindruck
war nicht stärker als der des Schwarz-
Weiß. Der Holzschnitt, wie er war,
enthüllt alles.

Munch steht ganz allein.

Von ihm kann man ausgehen. Er
kann etwas geben. Die Keime seiner
Darstellungsart (ich sage: die Keime,
nicht das »Wie«) sind generell gütig
für die synthetische Kunst. Man findet
die merkwürdigsten Analogien in der
Synthese der Landschaft bei den beiden
so weltenweit getrennten Künstlern:
Munch und van Gogh — und zwar in
Farbe, Form, besser Deformierung. —
Munch ist ganz und gar Verneinung
und Leiden. Aber wir wollen alle Ent-
zückungen ausdrücken, in Linien, die
nicht über dem Dunkel endlos hin-
schweben, sondern die zum Himmel
hinaufgehen!

Ist bei Munch die Form und die
Linie ganz rein, die Erscheinung nur
geringstes Mittel zur Darstellung der
Idee, so zeigen einige andere Künstler
im Holzschnitt Tendenzen dieser Art,
modificiert nach ihrer Art. Da ist zuerst
Georges Minne. Auch er ist neuer-
dings in Deutschland bekannt geworden.
Der Kunstmob begeifert und belacht
ihn. Ich möchte in die Seelen meiner
lieben »Collegen« von der bildenden
Kunst hineinsehen können, wenn sie
stumm vor Minnes Blättern und Sculp-
turen stehen und nicht wissen, was sie
damit anfangen sollen. Was soll man
erst von der Misera plebs verlangen!
— Haben die Menschen noch irgend-
einen Zusammenhang mit irgendeiner
größeren, umfassenden Idee über dem
alltäglichen Leben und dem »Geschäft«?
Da jeder Zusammenhang mit einer
ehemals mächtigen Kirche zerrissen ist,
als deren Mitpriesterin eine Kunst der
tiefsten und schönsten Geheimnisse-
darstellung des Verstandenwerdens
sicher war, oder, was mehr ist, des
Gefühltwerdens? Und nun, diese
wenigen Menschen-Künstler, die das

Ideal einer unendlich höheren Kirche
im Herzen tragen, der Kirche des reinen
Menschenthums, an wen wenden sie
sich mit den Werken, die Verspre-
chungen und Bürgen dieser
künftigen Kirche sind
? — Diese
Werke sind heute wie Überbleibsel
eines uralten, ehemaligen Paradieses
oder fern vorausgeeilte Boten eines
künftigen — immer aber gleich einsam
und den Misshandlungen der Betrachter
ausgesetzt. Die Ästheten holen sich
aus ihnen neue Sensationen, prosti-
tuieren sie für ihre Zwecke und sind
dann überzeugt, das Werk zu »ver-
stehen«. Von allem anderen, was diesen
Werken widerfährt, rede ich lieber
nicht.

Als mir vor ein paar Jahren zum
erstenmale die Zeichnungen Minnes zu
den »Villages illusoires« von Verhaeren
zu Gesicht kamen, waren sie mir wie
ein Erlebnis meines Herzens, nicht zu-
erst meiner Augen, eine Erkenntnis,
ein Freund, Bruder, Mitstreiter. Ich
erkannte in Minne einen Synthetiker
von reinster Reinheit. Einen Menschen
aus der Kirche, die über der ganzen
Erde gewölbt ist, deren Dach der
Himmel ist, einen reinen Menschen.
Er sieht mit körperlicheren Augen als
Munch. Seine Menschen haben alles,
was der Mensch am Leibe hat, nicht
wie die Munchs, bei dem Fleck und
Linie alles, jede Form nur eine Modi-
ficierung von Fleck und Linie ist. —
Minnes Gewänder haben Falten, wunder-
bare Falten. Er ist der Einzige, der
das Phantastische von Gewänderfalten
erkennt und darstellt, das Leben und
Sichbewegen einer Materie, die von
Augenblick zu Augenblick ihr körper-
liches Dasein ändert, verschwindet und
in neuen Formen da ist, um alsbald
wieder zu verschwinden.

Seine Holzschnitte zeigen niemals
eine schwarze Fläche. Sie sind durch-
aus Strich, Zeichnung, Darstellung von
Erscheinungen, Körpern, Dingen. Seine
Menschen sind in wahrhaftigen Land-
schaften oder Gemächern. Aber er holt
alles hinauf in seine innere Welt und
gibt ihm das Kleid, das ihm sein
Glaube und sein Herz in die Hand legt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 170, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0170.html)