Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 174

Text

KASSNER: DIE MORAL DER LEGENDE.

ist, und keinen Menschen findend, der
in seine Welt eintreten und darin
wohnen möchte. — Aber es gibt Einige,
die, als Einzelne ohnmächtig gegen
die Entwicklung der bürgerlichen Un-
cultur, nichts thun können, als ihre

Pflicht, dem Dämon ihres Daseins zu
folgen, Zwiegespräche mit der Welt und
dem Dasein zu führen — und diese
zu hinterlassen als Zeugen dessen, was
sie waren, damit die Nachkommenden
davon zehren und weitergehen.

DIE MORAL DER LEGENDE.
(Zu einem Buche Jules Laforgues.)
Von RUDOLF KASSNER (Wien).

Hamlet, V. Act: Dost thou think, Alexander looked
o’ thisfashion i’ the world?

Moi, de ma rumeur fier, je vais parler longtemps
Des déeses: et par d’idolâtres peintures
A leur ombre enlever encore des ceintures.

St. Mallarmé »L’aprés-midi d’un Faune«.

Ich finde, wir sind unserer Zeit zu
nahe, um zu ermessen, inwieweit der
Dichter ihr im allgemeinen ein Ereignis
und eine Moral war. Es scheint viel-
mehr, im allgemeinen ein Ereignis und
eine Moral zu sein, hat der Dichter
aufgegeben. Was heute im allgemeinen
ein Ereignis und eine Moral scheint,
ist gewöhnlich ein schlechtes Schauspiel
oder ein Missverständnis, und vielem
Besten oder doch Guten wirft man nur
darum, weil man es nicht missverstehen
kann, vor, dass es unverständlich sei.
Doch ich bin Optimist und glaube, man
spricht im allgemeinen nur deshalb so-
viel dummes Zeug über den Dichter,
weil der Einzelne doch besser über ihn
zu schweigen weiß. Und das will ja
auch schließlich der Dichter. Er ist
nicht so sehr mehr allgemeines Ereignis,
als eine stille Thatsache des Einzelnen
und jedermanns, sofern jedermann ein
Einzelner geworden ist. Er wagt auf
das hin etwas und weiß, dass, wenn
er auch nur ganz Wenigen eine Offen-
heit bedeutet, er doch Vielen, wenigstens
gegen ihren Willen, eine Scham sein
kann. Ich meine, man wird niemals
mehr ihn oder etwas aus ihm citieren
können; auch die Vertheidiger und
Staatsanwälte werden es in ihren Plai-

doyers nicht können, aber der Dichter
wird mehr im Schweigen der Menschen
aufgenommen sein. Laut und öffentlich
wird man ihn auch nicht mehr lehren
— der Germanist in hundert Jahren.
Diese Komödie möchte ich sehen —
der Dichter wird immer mehr Erzieher
des Einzelnen, Erzieher allerdings auch
in einem sehr verschwiegenen Sinne,
und wer es zu prüfen verstünde, würde
unter den Einzelnen ein ganz eigen-
thümliches Taktgefühl dem Dichter
gegenüber ausgebildet finden, ein Takt-
gefühl, gegen welches sie allerdings
verstoßen, sobald sie laut über ihn
werden. Es wäre die Aufgabe einer
wahrhaft menschlichen Psychologie,
einer Psychologie als Humanismus, als
innere Metrik, zu untersuchen, inwie-
fern dieses Taktgefühl dem Dichter
gegenüber einem Taktgefühl uns selbst
gegenüber gleichkommt, und inwiefern
wir uns selbst verschweigen, wenn wir
vom Dichter reden, und warum wir
mit so vielen und langen Worten den
Dichter in uns umgehen. Einige der
besten und verschwiegensten modernen
Dichter wollen wirklich und wörtlich
nichts anderes, als dass wir uns selbst
verstehen, und ihre Dichtungen sind
nichts anderes, als ferne Spiegel und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 174, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0174.html)