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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 175

Text

KASSNER: DIE MORAL DER LEGENDE.

Beispiele eines möglichen Selbstver-
ständnisses. Ja, nur und nur hier liegt
das Lebendige, die Leidenschaft des
Symbols und seine Dialectik, welch
letztere freilich oft den Schein der Ver-
führung hat. Es ist ein Umweg, weit
und verschlungen, zu uns selbst, ge-
heimnisvoll und klar wie die Schick-
sale und die Augen der Dinge.

Und damit nun, dass man lernen
kann, besser und tiefer über den Dichter
zu schweigen, ihn gleichsam in sich
selbst zu verschweigen, hängt es auch
zusammen, dass man anders über ihn
und mit ihm lacht. Man vergesse nicht,
mehr noch als der Ernst hat das Lachen
dem Dichter gegolten, dem Dichter in
jedem Bild und jeder Kappe, und alles
große Lachen war nie ohne den Ernst
des Dichters und war immer wie sein
Bild, seine Verkleidung und sein Spiegel,
Das große Lachen Shakespeares und
Cervantes’! »Such laughter, like sun-
shine on the deep sea, is very beautiful
to me«, sagt Carlyle von ihm. Doch
das brächte mich zu weit; ich will nur
sagen, dass man dieses Lachen, das
Sonnenlachen über verschwiegenen Tie-
fen, vergessen hatte. Das Lachen ist
für viele Menschen nicht mehr des
Dichters Bild, seine Verkleidung und
sein Spiegel, sondern nur seine Correctur
zu Gunsten der Vernunft und alles
Mittelmäßigen und Mäßigen gewesen.
Man hat über den Dichter gelacht, weil
er unvernünftig war, und das Lachen
war die Rancune der vielen kleinen
Dinge und das heitere Gericht der Ver-
nünftigen. Schließlich wäre das nicht
so schlimm gewesen, aber der Dichter
hat über sich selbst gelacht, weil er
unvernünftig war, und hat so seine Mit-
menschen sein Lachen gelehrt. Immer
lehrt der Dichter die Menschen das
Lachen und immer lehrt er es deut-
licher als sein Schweigen. Es ist dies
das Lachen Voltaires und Heines, das
alle Mäßigen wie sich selbst und ihre
Verdauung sofort verstehen, »le sourire
de l’esprit«, wie es Maeterlinck in einigen
einleitenden Zeilen über den Dichter,
von dem ich später sprechen werde,
von dem »Lachen der Seele« unter-
scheidet, das Lachen aller Menschen,

die für ihren Ernst immer Definitionen
und Citate haben. Es gab wirklich
Zeiten, in denen man Dichter definieren
zu können und zu müssen glaubte,
und das war nicht zuletzt gerade da-
mals, als die Dichter bei jeder Gelegen-
heit mit der Pose des Undefinierbaren
auftraten und unter allen Umständen
Romantiker sein wollten. Es klingt
paradox, aber nichts hat so sehr die
Folgen, einer Definition, als alles Vage
und auf alle Fälle Unbestimmte. Zuletzt
definiert dann ein guter oder schlechter
Witz des Unbetheiligten den Schwärmer,
und über Dichterschicksale lacht alles,
was für’s Leben die Definition und
für den Himmel die Vorsehung liebt.
Dieses sichere Lachen der Gemein-
plätze ist seltener geworden, die Ge-
meinplätze haben heute schon fast gar
keinen Geist mehr und die Definitionen
keine Folgen mehr. Man lacht stiller,
mehr im Sinne und über den Sinn des
Dichters und nicht mehr über das, was
die Vernunft Unsinn nennt, man lacht
nicht mehr im Rücken der Dinge, wie
alles Vernünftige und Mäßige, sondern
den Dingen in die Augen. In Klammer
noch schnell, man kann mich sehr schnell
und treffend widerlegen, wenn man
mich auf unsere Bühnen verweist, aber
erstens spreche ich von Dichtern, also
von Leuten, die oft gar nicht schreiben,
und zweitens bin ich par pique Optimist
und spreche, um kurzen Process zu
machen, im Namen des Ideals!

Im Namen des Ideals und eines sehr
guten, ja genialen und darum auch fast
gar nicht gekannten Buches. Es heißt
»Moralités Légendaires« und ist von
Jules Laforgue, wohl dem feinsten und
bizarrsten Geiste unter den Dichtern, die
man unter dem Namen »Jungfrankreich«
kennt. Das Buch ist vor vierzehn Jahren
erschienen, im Todesjahre des Dichters.
Ich will nur von ihm sprechen. Über
die Persönlichkeit des Dichters — und
das war dieser junge, durch einen
schrecklichen Tod in seinem 27. Lebens-
jahre seiner Zeit entrissene Dichter —
wird man sich erst ganz im Klaren sein,
wenn die neue Ausgabe seiner Bücher,
die man jetzt in Paris vorbereitet, er-
schienen sein wird.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 175, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0175.html)