Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 179

Text

KASSNER: DIE MORAL DER LEGENDE.

Dichter? Und wenn da der Tod so früh
kommt, so ist es, als wenn er gerufen
käme oder kommen musste. Unter
diesen Dichterjünglingen — ich nenne
noch Keats, Novalis, Vauvenargues, den
jungen Philosophen — ist Laforgue
der Lachende, und dieses Lachen ist
merkwürdig immer wie das Wissen
des Endes und des großen Trugschlusses.
Das Lachen ist hier gleichsam sinn-
bildlich; kehrt man das Innere nach
außen, so erblickt man etwas Starres,
Fertiges, Ausgesprochenes, den Tod.
Jules Laforgue war ferner ein Unent-
schiedener. Und wenn er sich entschied
— mit einem Worte, einer Geste, einem
Gedichte, seinem Leben — so war seine
Entscheidung das Lachen über seine
Unentschiedenheit und Grundlosigkeit,
seine Geburt — alles nur Geborene
ist grundlos — ja er musste lachen
über alles, was sich entschied und aus-
sprach, als Held, Ideal, letzter Act, das
Unbewusste sich aussprach. Die einzig
mögliche Entscheidung war ihm das
Kunstwerk. Wenn man ihm darauf
erwidert hätte, dass alle gewaltsamen,
über- und unnatürlichen, unbewussten
Entscheidungen wie Helden, Ideale und
letzten Acte den Tod herausfordern und
in seinem Spiegel zu Bildern des Lebens
werden, so hätte Jules Laforgue ant-
worten müssen: So nehmt ihr nur mein
Lachen, denn auch dieses ist ein Sinn-
bild des Todes.

Jules Laforgue war ein Gespaltener
und einer, der täglich, doch nein, was heißt
täglich, ich meine augenblicklich, der
augenblicklich also seine Einheit in
Bildern und Gedanken finden musste. Er
litt an dem ewigen Widerspruch zwischen
Denken und Fühlen! Schließlich, wer
kennt ihn nicht, darauf kommt es wahr-
lich nicht an, aber er und einige Andere
sagen: das ist unsere Wirklichkeit.
Mit seinen Gedanken war er immer
am Ende der Dinge, mit seinen Ge-
fühlen immer vor dem Leben, vor
jedem Augenblicke. Seine Gedanken
hatten alles Mögliche immer überholt,
allem Möglichen immer schon gleichsam
das Ende und den Tod geholt, seine
Gedanken hatten alles ausgesprochen,
seinen Gefühlen war alles fern und

unnennbar und eigen. Darum litt er an
seinem Wissen wie an seinem Schick-
sal, und seine Sehnsucht langte nach
den Augenblicken und Wellen des
Meeres mit allen Sinnen wie mit Armen.
Jules Laforgue gehört zu den Menschen,
die immer außer sich sind und sich selbst
niemals besitzen. In einem Gedichte:
Mettons le doigt sur la plaie, sagt er:

Oh! rien qu’un port entre mon coeur et le
présent
Oh! lourd passé, combien ai-je encore de
demains!

Das ist deutlich! Ich suchte bei
vielen Dichtern nach diesen Versen,
endlich habe ich sie gefunden. Jules
Laforgue fehlte das Leben des Herzens,
es fehlt fast allen wahrhaften Dichtern,
die mit 27 Jahren sterben. Ihm fehlte
die Gegenwart. Und das Herz scheint
in uns das Organ der Gegenwart zu
sein. Alles andere ist augenblicklicher
Genuss oder ewige Mystik. Sein Herz
war zerrissen, nur bitte ich, das ja
nicht im Sinne aller Liebes- und Ver-
lobungsdichter zu meinen, das soll
sagen, von seinem Herzen hatte sein
heftiges Genießen etwas an sich gerissen
und am Blute seines Herzens tranken
die Gedanken über alle ewigen und
möglichen Dinge. Das Herz ist unsere
Einheit, immer gegenwärtig wie das
Werk und das Weib, die Legende
und der Held. Und Jules Laforgue
liebt das Weib wie das Leben, nicht
weniger, aber auch nicht mehr. Er
liebt es als Spiegel und Augenblick,
als Bestimmung seiner Sinne. Es besitzt
sich selbst, es ist immer unbewusst,
ausgesprochen, gegenwärtig. In Lohen-
grin, fils de Parsifal, heißt es: »Ils (i. e.
Lohengrin et Elsa) rentrent sans parler,
lui accablé de responsabilités transcen-
dantes, elle chez elle.« Man vergleiche
damit, was Novalis ins Tagebuch über
seine Braut schrieb: »Sie will nicht
etwas sein. Sie ist etwas.« Und Jules
Laforgues Hamlet übersetzt das alte,
gleichgiltige Thema schlechter Lyriker:
»Frailty, thy name is woman« mit seinem
prachtvollen: »Stabilité, ton nom est
femme.« Doch so hätte er zu allen
Dingen sprechen können, denen zu-
liebe er lachte!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 179, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0179.html)