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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 183

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MAUCLAIR: MALLARMÉ.

an den Emotionen des Individuums.
So sprach der Mensch eine Idee durch
die Diction der Verse aus, der Mime
machte die von den Worten vorge-
schriebene Bewegung, das Ballet drückte
die wahrnehmbaren Wirkungen dieser
Handlungen in der Natur aus, und die
Musik gab die allgemeinen Gefühle des
Dramas wieder, ein wenig nach der
Rolle des griechischen Chores, indem
sie gleichzeitig für die Gesten des
Mimen und für die Evolutionen des
Ballets den Takt angab. Die Tonalität
und der Rhythmus des Verses als
Central-Element regelten die Recitative
und das Orchester.

Das ist die Theorie des Wagner-
Dramas, allerdings mit dem bedeuten-
den Unterschied, dass die Hauptrolle
der Persönlichkeit bleibt und die Musik
nur die Begleitung zur Literatur ab-
gibt, während bei Wagner die gleiche
Bedeutung beider Elemente überall
hervortritt. Ein anderer Unterschied
besteht darin, dass Wagner nach
Mallarmés Urtheil den Fehler begieng,
seine originellen Quellen der Leiden-
schaft und Kunst über die fertige
Legende, das zu entwickelnde »Sujet«
zu stellen, anstatt jedesmal aus eigenen
Mitteln ein literarisches und ideologisches
Thema zu schaffen. Mallarmé war mit
Recht der Ansicht, dass der französische
Genius gegen die Annahme der Legende
sich ganz besonders sträubt. Sein Sym-
bolismus wiederholte sich beständig
und duldete nicht, dass man ein be-
kanntes mythisches »Sujet«, und wenn
es auch noch so wunderbar war, »ver-
arbeitete«. Was den Tanz betraf, so
betrachtete ihn Stephan Mallarmé gleich-
zeitig als eine Belebung der Decoration
und als einen Gefühlsausfluss der Per-
sönlichkeit. Zwischen dem Helden und
der seine Gedanken mit ansehenden
Natur bewegte sich das Ballet. »Tout
agit au théâtre par réciprocités et
relativement à une figure seule«, sagte
der Dichter. Das ist das Gesetz eines
jeden Systems, das sich auf den In-
dividualismus gründet.

Diese Auffassung des Theaters ist
fast die der Symphonie und der Fuge;
eine beständige Symmetrie, Ordnung

und Reciprocität aller Formen des ästhe-
tischen Ausdrucks sollten sie beherr-
schen. Mallarmé wusste wohl, welche
Aufmerksamkeit, welches Feingefühl
eine solche Vorstellung beim Zuschauer
voraussetzt. Doch er erwiderte darauf,
ein jeder nehme sich vom Theater, was
ihm gefällt und was sich für ihn eignet;
das Anhören eines Orchesterstückes
rufe bei dem Einen ein unendliches
Wohlbehagen, bei Anderen eine starke
Begeisterung und bei den Kennern oder
geborenen Musikern ein Verständnis
der Themata, der Timbres, der instrumen-
talen Partien hervor, das die Profanen,
die in der Vorführung ihre Rechnung
oder ihr Vergnügen finden, nicht be-
sitzen. »So«, sagte er, »enthält alles,
was man sieht, ernste Freuden, die die
Zuschauer mehr oder weniger entdecken;
dabei muss man sich nicht aufhalten,
und auf jeden Fall birgt das wirklich
vollkommene Theater alle diese logischen
Elemente«. Was das Publicum anbetraf,
so machte es Mallarmé zu einem noth-
wendigen Theile des Theaters. Seiner
Meinung nach besaß das Drama ein
einziges Hauptsujet, das er unter tausend
Anecdoten wiederfand. Es war die Con-
frontierung des mit Verstand be-
gabten menschlichen Wesens mit
der Natur
. »Wenn ich beim Aufgehen
des Vorhanges«, sagte er, »einen Herrn
und eine Dame sehe, die von Aben-
teuern sprechen, die mir auch passieren
können, so gibt es für mich kein Theater
mehr; ich sage mir wie der Bauer, ich
bin indiscret, wenn ich das Gespräch
dieser Leute über ihre eigenen Ange-
legenheiten weiter mit anhöre.« Die
Charakterkomödie und das ganze psycho-
logische Theater hatte also in seinen
Augen keine literarische Daseinsbe-
rechtigung. Es war für ihn eine »Unter-
haltung«, eine sich auf das gewöhnliche
Leben beziehende Erklärung, aber ab-
solut kein Kunstwerk. Schon beim
Aufgehen des Vorhanges musste alles
mit einem Schlage auf einen allgemeinen
und abstracten Plan, der über Zeit
und Raum hinausgieng, gestimmt sein
»comme le symbolise l’élévation du
plancher scènique.« Dann begann die
Zurschaustellung des Menschen, den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 183, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0183.html)