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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 193

Text

MILTSCHINOVITSCH: DER NACHEN. — DAS BILD.

in die Menge stürzt; das ist wahr!
Wie Sie, Madame, das möchte ich
wetten, sich ihn — trotz des Doppel-
reimes am Schluss — wohl kaum so
ruhig angehört hätten, wäre nicht jedes
Wort anklingend durch alle Schleußen

Ihres Wesens eingedrungen, um einen
Geist zu bezaubern, der dem Verständnis
aller Dinge offensteht.«

»Vielleicht!« gab sie munter zu,
auf meinen Gedanken eingehend, vom
nächtlichen Wind kosend umweht.

DER NACHEN.
Von ANDRIJA MILTSCHINOVITSCH.
Autorisierte Übersetzung aus dem Croatischen von ZOFKA KOEDER.

Ein großes, langes Thal, nur da
und dort mit kleinen Sträuchern der
dunkelblauen, bitteren Wachholder-
Beere bestreut.

Am Ende, in der Tiefe, ganz ferne
windet sich ein Fluss.

Kein Weg, kein Pfad führt zu ihm.

Der Fluss fließt allein, ungestört —

Groß ist er. Man weiß nicht sein
Ende.

Breit ist er, als sei er ausgetreten.

Aber er ist nicht. Er hat kein Bett.
Nie hat er eines gehabt.

Er fließt allein, frei, ungestört — — —



An der Biegung.

Das eine Ufer unterwaschen, unter-
wühlt, auf das andere hat der Fluss
dichten, dicken Schlamm angeschwemmt.

Er hat schon viel angeschwemmt.

Alles ein dichter, gelber Sand.

Öde, leer.

Von weitem, ganz von weitem
hatten sich heimlich und furchtsam ein

paar Büschel dünnen Grases heran-
geschlichen. Aber auch die sind ver-
trocknet.

Der Sand ist dünn, der Sand ist
trocken, der Sand ist gierig; hungrig
saugt er die feinen Fasern aus, gierig
trinkt er Tropfen nach Tropfen.



Hier liegt — er.

Aus dem Wasser gezogen, ans Land
geworfen; er ist schwarz und zer-
sprungen.

Ein zerfallender, kleiner Nachen.

Allein

Kein Baum, kein Strauch schützt
ihn vor Regen und Sonne.

Er liegt allein, vollkommen allein.



Man weiß es nicht, wer ihn ans
Land gezogen hat, warum er in diese
Öde gekommen ist.

Der Sand hat schon längst die
Planken verschüttet, damit auch die
letzte Spur verschwinde.

DAS BILD.

Vor ihm lag es in einem kleinen,
steinernen Rahmen.

Er schaut es schon die zweite Stunde
ruhig, ohne Worte an.

Er getraut sich nicht, es anzurühren,
so lieb ist sie ihm, so theuer.

Und dann meldet sich in ihm der
Mensch. Er möchte sie in der Nähe

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 193, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0193.html)