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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 194

Text

BRYK: ZUM VERSTÄNDNIS DER PROJECTIONS-ERSCHEINUNGEN.

sehen, nicht aus der Ferne, sondern
so, wie sie ist.

Und behutsam, langsam, wie in
Angst und Furcht, um es nicht irgend-
wie zu verwunden, hob er das Glas
aus dem Rahmen und legte es auf
den Tisch.

Seine Hände zitterten.

Ja, so!

Jetzt will er sie ansehen, ganz von
der Nähe ansehen.

Und er vertiefte sich in das Bild.



Lange irrte sein Blick umher, dann
blieb er haften.

Es schien ihm, dass er noch immer
einen dünnen, ganz feinen Schleier
sehe, der sich über das Bild gelegt
hatte.

Er verschleierte sie, verhüllte, nahm
sie ihm weg — störte —

Er schaute, dachte an nichts und
streckte plötzlich die Hand aus — wie
aus dem Traum — um jenen dünnen,
feinen Schleier zu entfernen.

Ganz sachte, zart strich er mit der
Hand über das Bild.

Um zu entfernen!

Und dann sah er auf. Das Bild
war jetzt trübe, nebelig, unklar.

Es wurde ihm leid. Aber je länger
er hinsah, desto besser fühlte er es,
dass er es entfernen müsse.

Entfernen. Entfernen jenes Trübe,
Nebelhafte, Unklare, was sie ihm ver-
birgt, entzieht, bedeckt!

Und wieder strich er mit der Hand
über das Bild. Aber es blieb trübe und
nebelig.

Und je mehr er sich bemühte, desto
unklarer und trüber wurde das Bild.

Es kam ihm vor, dass die Lampe
zu schlecht leuchte und er drehte die
Flamme höher.

Die Flamme leuchtete stärker; besser
zeigte sie ihm das trübe Bild, aber dann
begann sie auszugehen.

Und er bemühte sich, schnell, wie
im Fieber, jenes Unklare von dem Bilde
zu entfernen.

Lange dauerte es, oft ist er mit der
Hand über das Bild gefahren. Das Öl
gieng aus, die Flamme war schon ganz
klein.

Er drehte sie noch einmal höher.
Die Flamme flackerte auf.

Das Bild war nicht mehr da; nur
seine Finger waren schwarz, schmutzig.

ZUM VERSTÄNDNIS DER PROJECTIONS-ERSCHEINUNGEN.
Von OTTO BRYK (Wien).
(Schluss.) III.

Der große Antheil, welcher dem Subjecte
bei der ästhetischen Production zugesprochen
wird, wird öfters in dem Sinne missdeutet,
als ob der objective Charakter des Dar-
zustellenden unter der Beeinflussung durch
ein persönliches Bewusstsein nothgedrungen
verwischt, wo nicht gar entstellt, erscheinen
müsste. Dagegen ist einzuwenden, dass
das geniale Subject gewohnt und geübt ist,
sein persönliches Bewusstsein zur Höhe
eines kosmischen Bewusstseins zu erheben,
und damit die äußeren Vorgänge als zu

dem eigenen Bewusstseins-Ablauf gehörig
zu betrachten. Es ist also die Expansion
einer individuellen Anschauungswelt, welcher
die Verinnerlichung in der Auffassung der
äußeren Vorgänge zugeordnet ist. Diese
Expansion lässt sich consequenterweise
in die Grundhypothese einbeziehen unter
der Form einer Projection der Bewusst-
seins-Elemente auf die Außenwelt.

Von diesem Standpunkte aus erscheint
das ästhetische Problem in etwas hellerem
Lichte. Schon Kant hatte in der Kritik

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 194, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0194.html)