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der Urtheilskraft die Aufmerksamkeit darauf
gelenkt, dass den ästhetischen Urtheilen
Allgemeingiltigkeit nur im Sinne der Sub-
jectsbetheiligung zukomme. Nicht die ob-
jective Richtigkeit drücke ein ästhetisches
Urtheil aus (welches seinem Inhalte nach
allemal empirisch sei), sondern das Formale
in der subjectiven Thätigkeit der Einbildungs-
kraft in ihrem Verhältnis zum discursiven
Verstande. Thatsächlich ist es Jedem, dem
es um das Verständnis des Kunst-Mysteriums
ernst zu thun ist, wertvoller, seine — im
allgemeinen ihm selbst nur verworren
gegebene — Reflexionsthätigkeit kennen
zu lernen, als das eine oder andere neue
Bestimmungsmerkmal. Wer vermöchte aber,
diesen eigenartigen Zustand der Gemüths-
kräfte, der zwischen Receptivität und Pro-
ductivität vermittelt, klarer zu enthüllen,
als ein Bewusstsein, das sich selbt mit all
seinen Oberflächenerscheinungen und Unter-
strömungen in das Riesenhafte vergrößert
hat, welches mit der Welt, die es durch-
dringt, vergeistigt, — wieder zusammenfällt?
Das Wesen dieser Bewusstseins-Pro-
jectionen tritt am deutlichsten in der Form
des musikalischen Schaffens zutage. Während
alle übrigen Künste ihre formalen Elemente
der Außenwelt entnehmen und durch Stoff
und Mittel ihres Gestaltungsgebietes eng
und stetig mit ihr in Contact treten, bleibt
die Musik in ihrem Verhältnis zum inneren
Sinn umso reiner, je mehr es ihr gelingt,
sich dem individuellen Bewusstseins-Fluss
formal zu nähern. Die primitivsten Em-
pfindungen erscheinen wie die compli-
ciertesten psychischen Vorgänge dem inneren
Sinne unter der Form der Zeit, so dass
ihre adäquate Wiedergabe (Projection)
auf musikalischem Wege nicht nur über-
haupt, sondern — möchte man fast sagen
— allein möglich wird.
Das Ich selbst muss als untheilbarer,
ausdehnungsloser Punkt aufgefasst werden,
gegen den alles Empfundene convergiert,
von dem aus alles Begehrte divergiert,
gleichsam, um hiedurch eine unverrück-
bare Richtung zu empfangen. Das Ver-
hältnis dieses Convergenz-Punktes zum
Complex der durch Association aneinander
geketteten Bewusstseins-Elemente tritt in
den musikalischen Kunstformen in die Er-
scheinung. Um dies zu begreifen, muss man
sich daran erinnern, dass die Musik ihrer
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psychologischen Aufgabe erst gerecht zu
werden begann, als der polyphone Aus-
drucks-Apparat seine technische Höhe be-
reits erreicht hatte. Von der Zeit des
gregorianischen Chorals bis spät in die
Renaissance — also ein volles Jahrtausend
— ist an der Construction dieses merk-
würdigen Apparates gearbeitet worden. Erst
dann war es möglich, eine einzelne fest-
gehaltene Melodie — meist recitatorisch,
weniger eigentlich melodisch gehalten,
ein Rest des rhapsodischen Vertrages —
entweder succesive von mehreren Stim-
men nach abgemessenen Intervallen und
in verschiedenen Tonhöhen einfach zu
wiederholen (Canonische Imitation) oder
anderen melodischen Ideen gegenüber-
zustellen und den Gegensatz beider in
ihrer Verarbeitung durchzuführen (Contra-
punkt, Fuge). Alle diese Kunstformen,
aus denen sich unser heutiger musika-
lischer Formenschatz entwickelt hat und
an denen sich die Musik für ihre
psychologischen Probleme langsam vor-
bereitete, beruhen auf dem Festhalten
eines Grundgedankens, der durch das
Stimmengewoge hindurchschimmert, ohne
von diesem mitgerissen werden zu können,
an den sich das Meer der in die Höhe und
Tiefe ziehenden Gegengedanken vergeblich
bricht und der durch dieses ganze Spiel
und die Einwirkung der Nebenthemen nur
an Klarheit und Deutlichkeit gewinnt. —
Das Verhältnis eines zeitlosen, unzerstör-
baren Centrums zur flüchtigen Vorstellungs-
welt, welches eigentlich erst das Wesen
des Bewusstseins-Ablaufes illustriert, hätte
wohl kaum in anderer Weise ebenso plastisch
ausgedrückt werden können. In den poly-
phonen Formen zeigt sich also das formal-
psychische Element der Musik am reinsten:
Musik ist Selbstprojection, die polyphonen
Kunstformen gleichzeitig Form der Selbst-
projection.
Da diese Erörterungen nur als die
ersten, unsicheren Schritte in ein wenig
betretenes Gebiet zu betrachten sind, so
wäre es verfrüht, ein ästhetisches System
zu entwerfen, welches den Wert der pro-
jectiven Auffassung an allen Kunststilen
und Kunstformen sauber und subtil nach-
zuweisen sich bemühte. Vielleicht darf es
für den ersten Augenblick genügend ge-
wesen sein, Projections-Phänomene in den
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