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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 209

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BLEIBTREU: DIALOG ÜBER ESOTERISCHEN BUDDHISMUS.

Gewicht, um den Größenwahn kleinerer
Ichs zu dämpfen, die in kindischer Über-
hebung das Ich als absolut und die Welt-
ordnung als Chimäre erklären. In Wahr-
heit liegt der Fall jedoch so, dass umge-
kehrt den »Nietzscheanern«, um einen
Allgemeinbegriff für uralte Tendenzen zu
wählen, die Beweisführung für Abstreiten
der All-Moral und für Ich-Vergötterung
zugeschoben werden muss, die sie durch
allerlei Sophismen zu lösen trachten —
ein theoretischer Beweis für eine »moralische
Weltordnung« hingegen an sich unnütz
wird, weil diese sich einfach praktisch
als Thatsache aufdrängt. Denn wie aus
Obigem ersichtlich: je größer der Intellect,
ja, je größer der Ich-Wille, desto größer
seine Gewissheit, dass der Mensch nach
einer höheren Sittlichkeit hin gravitiert.
Und hiemit ist, trotz aller pessimistischen
Scheinauslegung einer brutalen Stärke-
Auslese im Daseinskampf, die moralische
Ordnung bewiesen.

— Geistreich deduciert! Bitte aber vor-
her aufzuklären: Wer setzte »Karma« in
die Welt? Und in dies laut Buddha so
miserable Dasein setzt man uns nicht nur
hinein, sondern macht uns verantwortlich
für unsere Thaten? Und doch haben wir
ja keinen freien Willen; maschinenmäßig
rollt unser Karma sich ab? Und doch
vermöge desselben Karma sind wir sogar
verantwortlich für Thaten unserer Vor-
gänger, die gleichfalls nur wollen mussten?

— Eile mit Weile! Diese Stachelfragen
sind unleugbar logisch berechtigt. Aber
man hat mit der menschlichen Logik auch
viele einfache Naturvorgänge und -Wir-
kungen als unmöglich bestritten. Siehe
Dampf, Elektricität, Röntgenstrahlen. Siehe
Hypnose und Ferngesicht, sowie andere
occulte Manifestationen, die man heute noch
ohne jede Prüfung ins nackte Angesicht
der unbestreitbaren Thatsachen ableugnet.
Wenn nun eines Tages durch irgendeinen
Columbus der unbekannten Seelenküsten
das Karma als entdeckte Thatsache greif-
bar vor Augen gebracht würde, dann
würden wir auf einmal uns wundern,
warum unsere scheinbare Logik uns so
logisch erschien. Mit der gleichen Logik
würden wir haarscharf definieren, nur Karma
begründe richtig das Warum, dass wir
selbstredend nur »wollen mussten«. Das

leugnen Sie auch gar nicht als moderner
Determinist? Nun, dann ist ja eine Seite der
Karma-Lehre, nämlich die deterministische
Vorherbestimmung, für Sie logisch fest-
stehend, und Sie müssen von vornherein
zugeben, dass dies die einzige religiöse
Lehre ist, die dem unbezweifelbaren System
der ewigen Causalität Rechnung trägt.
Schon jetzt also werden Sie gütigst zurück-
nehmen, dass »Karma« etwas Monströses
und Phantastisches sei, wie alle anderen
kirchlichen Dogmen und Märchen. Streichen
wir einmal die Mystik und fassen wir
»Karma« nur symbolisch auf, dann bleibt
es doch die genialste Allegorie des Causa-
litäts- und Vererbungsgesetzes.

— Ach, Unsinn! Die Causalität ist
eben rein an die Materie gebunden, da ist
sie vernünftig, aber auf geistige und ethische
Dinge angewandt — Blödsinn.

— Ein merkwürdig ungeschicktes
Weltgesetz in der angeblich so wunderbar
harmonischen Klugheit der Natur — das
auf einen Fall passt, bloß nicht auf den
andern! Die Naturgesetze pflegen sich
doch sonst ihr Lebtag nicht mit Kleinig-
keiten abzugeben, nichts Halbes zu
prakticieren. Gehen wir nun zur mystischen
Seite über —

— Ja, die Mystik! Nicht wahr,
Mysterien für unsern beschränkten Ver-
stand? Aber wir haben nun ’mal keinen
andern. Und was sich mit meinem Er-
kennen in Widerspruch setzt, ist mir ein-
fach Vernunftwidrigkeit. Und darum müsste
ich blind daran glauben.

— Das verlangt niemand. Nicht
Glauben predigt Buddha, sondern Er-
kennen. Gewiss steht Mystik als Un-
bekanntes über unserer kleinen Vernunft,
aber nicht gegen sie. Das Übersinnliche
braucht keineswegs unsere eigenen, sub-
jectiv richtigen Vernunftschlusse umzu-
stoßen, im Gegentheil sollten diese uns
befähigen, dem Übersinnlichen näherzu-
kommen.

— Ach, wie denn! Nach welchen
Gesetzen verläuft das außermenschliche
Weltgeschehen? Und wie vertragen sich
diese mit dem moralischen Vergeltungs-
gesetz? Dies Entgegenwirken würde doch
jede einheitliche Harmonie im Weltganzen
ruinieren. Wie steht es z. B. mit der
Thier- und Pflanzenwelt?

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 209, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0209.html)