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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 210

Text

BLEIBTREU: DIALOG ÜBER ESOTERISCHEN BUDDHISMUS.

— Sie wissen also nicht einmal, dass
der esoterische Buddhismus das Karma
sogar auf die Weltkörper (Planeten) an-
wendet, die in ihrer Weise geradesogut
Lebewesen sind wie wir. Selbstverständ-
lich steigen Pflanzen und Thiere, dem
gleichen Gesetz unterfallend, gleichfalls
allmählich in der großen Karma-Evolution
zu höheren Formen empor, unablässig
wiedergeboren. Jede Manvantara (Evo-
lutionsperiode eines Weltkörpers, die oft-
maligen Erdzerstörungen zu Wiederaufbau)
zeigt an, dass ein Karma erfüllt war und
ein neues beginnt, ähnlich dem »Tod« des
Individualismus zu baldigem Wiederauf-
leben in anderer Form.

— In »anderer« — auch in besserer?

— Im allgemeinen ohne Zweifel. Doch
die Fortentwicklung kann auch in abstei-
gender Verschärfung erfolgen. Es wäre
möglich, dass ein menschlicher »Manas«
(höhere Vernunft) wieder in die bösartigste
Thierwelt Stufe für Stufe zurücksinkt oder
als »Elemental« ein unheilvolles Zwitter-
dasein zwischen Körperwelt und Geister-
sein führt. Sehen wir doch in der sicht-
baren Natur ein Ausmerzen untauglicher,
schlechter Formen und ataristische Rück-
fälle! Doch als Regel ist, wie gesagt, eine
Verbesserung der seelischen Artung von
Karma zu Karma anzunehmen. Wiederum
bemerken wir ja in der äußeren Geschichte
der Menschheit, dass zwar die blind-
egoistische Gesinnung unserer Rasse —
der »fünften« seit Beginn, laut occulter
Kunde — seit Anfang des letzten Man-
vantara immer die nämliche blieb, der
»Wille« also von Karma zu Karma sich
unverändert fortpflanzte, dagegen sehr
erhebliche Milderungen dieses bösen Wil-
lens im Allgemeinfühlen eintreten. Wir
sind Egoisten wie die Römer, die Feudal-
und Kirchentyrannen des Mittelalters und
der Renaissance, aber die völlige Gleich-
giltigkeit gegen das Leiden des Mit-
menschen, ja die bestialische Freude daran,
kurz die Grausamkeit nahm in einem
Grade ab, dass man aus passivem Abscheu
vor verbrecherischer Leid-Erzeugung schon
bis zu activem Mitleiden mit dem socialen
Elend sich aufraffte. — Diese günstige
Evolution ist von Karma zu Karma durch
Erkenntnis des Leidens verursacht worden,
da das Leiden hauptsächlich den Zweck

verfolgt, die eigene Sensitivität zu ver-
feinern, so dass sie instinctiv die allge-
meine Leidenskette mitfühlt. Der Sinn
des gesammten Karma-Gesetzes und der
Weltordnung buddhistischer Anschauung
besteht eben darin, das isolierte Ich
deutlicher und immer deutlicher an seine
Nicht-Isolierung zu erinnern, ihm vom
Ahnen bis zum Erkennen die Gewissheit
beizubringen, dass Ich kein eigentliches
Ich, sondern ein Spiegelbild des Du ist
und dass alle miteinander auf demselben
einheitlichen Urgrund beruhen — dass also
das Körperleben nur eine beschränkte, ab-
getrennte Theil-Erscheinung eines höheren
Ganzen ist, zu welchem das Ich wieder
zurückzustreben und freudig darin unter-
zugehen habe. Dieser »Untergang« ist
gerade das wahre, das »ewige Leben«,
von dem auch Jesus spricht.

— Jawohl, Nirwana. »Es gibt, ihr
Jünger, eine Stätte, wo weder Raum ist
noch Zeit, weder Leben noch Tod« etc.
Wer kann sich solches vorstellen! Phrase!

— Glauben Sie wirklich, dass in
Augenblicken religiöser oder dichterischer
Ekstase nicht eine klare Ahnung solches
seligen Zustandes keimt? Lesen Sie doch
die Bekenntnisse des heiligen Franz von
Assisi und ähnlicher christlicher Heiliger!
Was sie als ihre innere Seligkeit preisen,
ist wörtlich das Nirwana Buddhas, so
wenig verhüllt durch pseudo-christliche
Kirchenmythologie, dass stinkende Pfaffen
schon den Verdacht der Ketzerei gegen
die später Canonisierten erhoben. Aus-
drücklich lehrt Buddha, dass es möglich
sei, sogar im Körperdasein in Nirwana
einzugehen. Was besagt dies? Dass es
keinerlei »Ort« (Himmel) oder greifbarer
Zustand, sondern ein Gefühl ist, nämlich
das All-Gefühl, der Universal-Effect, von
dem auch Giordano Brunos Eroici fuori
handeln. Aus bewundernder All-Begeiste-
rung begeisterte All-Liebe, bis der Stachel
thörichter Selbstliebe erlischt und die
Täuschung des kleinen Ich nicht mehr
empfunden wird.

— Kleines Ich? »Höchstes Glück der
Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit.«
Auf dem Individuellen ist alles aufgebaut,
und Nietzsche sagt so schön: »Die
Menschen sind nicht gleich.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 210, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0210.html)