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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 214

Text

BLEIBTREU: DIALOG ÜBER ESOTERISCHEN BUDDHISMUS.

Notwendigkeit (Anangke) ist oberste
Herrin, und wer das Ich will, der
verliert naturgemäß das All
und
hiermit die Harmonie.

— Aha, die Notwendigkeit — hiermit
also Causalität und Determinismus. Und
dabei soll die puritanische »Moral« des
Buddhismus bestehen bleiben, die uns zu
Schemen ohne Saft und Kraft erniedrigt?
Überhaupt — »Glück« des Nicht-Seins?
Glück setzt ein empfindendes Wesen und
empfundenes Gut voraus; gieng ich aber
im Unbewusst-Unpersönlichen auf, verspüre
ich doch kein Glück mehr?

— Diese kindliche Logik steht un-
gefähr auf gleicher Höhe, wie Nietzsches
großartige Weisheit, die Sie so emphatisch
citierten: »Was nicht ist, kann auch
nicht wollen«. Als ob Jungen mit dem
Flitzbogen ein Fort beschössen und jubeln,
weil ihr Kinderbolzen am Außenwall
wirklich hängen bleibt, sie hätten ins
Herz der Festung geschossen! Oder als
ob eine Sanskrit-Rede von einem Berliner
Eckensteher mit ein paar faulen Witzen
»widerlegt« würde, obschon er kein Wort
Sanskrit versteht! Freilich stammt das
alles aus der unseligen Sinnverschiebung
und -Verfälschung in Schopenhauers
»Willen zum Leben« her — nur stilistisch
oder aus wirklichem, seichtem Missver-
stehen. Dem gegenüber betone ich immer
und immer wieder, dass der Buddhismus
das Leben überhaupt nicht verneint, dessen
ewiger Fortdauer die Karma-Lehre ja sogar
den einzigen festen Untergrund bietet, ein
Streben nach Nirwana aber aufs stärkste
bejaht, nämlich das wahre, »das ewige
Leben«, von dem auch Jesus spricht.
Verneint wird nichts als das Leben

des Ich, der beschränkten Ich-Person.
»Ein Glück des Nicht-Seins« gibt es
allerdings nicht, denn es gibt über-
haupt kein Nicht-Sein
. Alles lebt in
Ewigkeit, sowohl das täuschende, minimal
begrenzte Körper-Sein, als alle Stufen-
reihen körperloser Existenz bis zur
weitesten Größenausdehnung im Nirwana.
Wie schon früher gesagt, legt die tibe-
tanisch-indische Geheimlehre den prä-
adamitischen Rassen eine halbgottartige,
halbkörperliche Wesenheit bei, und diese
»waren« so gut »da«, wie wir, konnten
daher auch »wollen«, sich aus Trotz
und Hochmuth als titanische Ichs zu ver-
körpern, was unweigerlich den großen
Erbfluch der Ich-Beschränkung, die große
Erbsünde, als Karma nach sich zog. Sie
haben den »Willen zum Leben des Ich«
erzeugt, der von da ab die Erdwelt
regierte, keineswegs aber ein Urprincip
bildete, wie es laut Schopenhauer scheinen
sollte. Da aber die Geisterwelt gerade
so gut ist und will, wie wir, so hat
obiger Tiefsinn Nietzsches für den
Buddhisten ungefähr die Logik: »Wer nicht
Fleisch isst, kann auch keinen Magen
haben«. Wenn Sie aber entgegenhalten,
dass Ihrem subjectiven Empfinden ein
unpersönliches Sein eben ein Nicht-Sein
bedeute, so suchte ja schon Schopenhauer
vortrefflich dem menschlichen Begriffs-
vermögen näherzubringen, dass vom
Standpunkt Nirwanas aus umgekehrt unser
Erdenleben als — absolutes Nicht-Sein,
als Nichts erscheinen müsse. Dieser in-
tuitiven Logik werden Sie umsomehr
beipflichten, als Sie ja selbst alles als
relativ und individuell betrachten.

(Schluss folgt.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 214, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0214.html)