Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 216

Text

JANET: DAS GEFÜHL DER PERSÖNLICHKEIT.

habe, lehrt mich, dass ich bin, dass ich
denke, dass ich will, dass ich fühle, dass
ich leide, doch es lässt mich nicht er-
kennen, was ich bin, es lehrt mich nicht
die Natur meines Denkens, meines Wollens,
meiner Gefühle, meiner Leidenschaften,
meiner Schmerzen, noch die Beziehungen,
die alle diese Dinge untereinander haben.«*
Doch diese Ansicht bleibt vereinzelt und
für die Kartesianer im allgemeinen unter-
scheiden sich Seele und Person kaum.
Im achtzehnten Jahrhundert, in der natür-
lichen Religion von Rousseau und Voltaire,
sehen wir stets die anscheinenden Charak-
tere der Persönlichkeit, die sich unmittel-
bar in wirkliche Eigenschaften der Seele
umgewandelt haben. Diese Auffassung
wird mit noch größerer Klarheit in den
Schriften eines Autors ausgesprochen, den
man nicht ohne einige Übertreibung mit
Maine de Biran hat vergleichen können:
des Abbé de Lignac, der in seinem
»Zeugnis des innersten Sinnes« (1760) be-
hauptet, dass wir stets, selbst im tiefsten
Schlummer, unsere unkörperliche Seele
fühlen, wie sie in Wirklichkeit ist.

Wirklich und wahrhaft ist die Unter-
scheidung, von der wir sprechen, erst
von Kant klar und endgiltig ausge-
sprochen worden. Unser Denken kann
nur nach seinen eigenen Gesetzen etwas
erkennen. Es construiert die Ideen, indem
es ihnen seine eigene Form anpasst;
daher kann es auch nur Wahrscheinlich-
keiten, Phänomene erfassen und kann
nichts von den metaphysischen Realitäten,
den Noumenen erkennen, die vielleicht
außerhalb seines Selbst existieren. Es
geht mit der Seele wie mit der Materie:
wir erfassen sie nicht durch eine un-
mittelbare Anschauung, wir lernen sie
nur durch tausend geistige Operationen
kennen, die uns ihre intime Natur ver-
hüllen.

Nach Kant ist dieser Gesichtspunkt allge-
mein angenommen worden. Die deutschen
Philosophen sagen uns mit Hartmann,
dass das Ich eine unfassbare Realität ist,**
mit Herbart, dass die Einheit und die

Charaktere der Seele in der Erklärung der
Einheit des Bewusstseins und der Persön-
lichkeit gar keine Rolle spielen. Alle eng-
lischen Philosophen, überzeugte Anhänger
der positiven Psychologie, verstehen unter
allen ihren Theorien über die Person stets die
Doctrin Kants. Sie könnten alle wie
W. James sagen, dass die Theorie der
Seele vollständig unnöthig ist, um die
subjectiven Phänomene des Bewusstseins,
so wie sie erscheinen, zu erklären. »Weit
entfernt, die Phänomene zu erklären, kann
die Seele nur verständlich sein, indem
man ihre Form nimmt, man muss sie
sich als einen transcendenten Strom des
Bewusstseins vorstellen, der an dem uns
bekannten vorüberfließt, d. h. wir müssen
eine Sache nehmen, die wir absolut nicht
kennen, um alle anderen zu erklären.«***

Die französischen Philosophen haben
fast alle mehr oder weniger deutlich eine
Meinung derselben Art adoptiert. Sogar
Maine de Biran, dem man häufig ganz ent-
gegengesetzte Doctrinen beigelegt hat,
nimmt die Kant’sche Unterscheidung an:
»Der geheime Sinn meiner beständigen
Individualität, die ich »Ich« nenne, ist wohl
die phänomenische Art, in der meine
Seele sich dem inneren Leben manifestiert,
aber nicht meine Seele, wie sie in sich
ist oder wie sie eine höhere Intelligenz
von außen sehen kann.«† Außerdem
sagt er in den von Th. v. Gérard ge-
sammelten Fragmenten: »Das Ich kann
bestehen und es wissen, ohne zu glauben,
dass es mit einer Substanz verbunden ist.††
So fassten es seine Zeitgenossen auf, denn
wir können Ampère, einem der Freunde
und Mitarbeiter Maine de Birans, ein sehr
deutliches Resumé der Frage entlehnen:
»Das bewusste Ich ist nicht mehr die
Seelensubstanz, als die Erkenntnis des
Blau nicht die Indigo-Substanz ist, die zu
dieser Erkenntnis Anlass gibt. Ebenso
wie Descartes einen Schritt gethan hat,
der von allem bekräftigt wird, was man
seitdem gesagt hat, indem man zwei
Dinge unterschied, nämlich: die Erkenntnis
und den Indigo, die lange Zeit miteinander

* Malebranche, Dritte Unterhaltung über die Metaphysik, herausgegeben von Jules Simon.

** Hartmann, Philosophie des Unbewussten.

*** W. James, Principles of psychology, 1890, I, 347.

† Maine de Biran, edit. Cousin, II, 374.

†† Maine de Biran, Th. de Gérard, Fragm. inédit, pagina LXXXIV.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 216, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0216.html)