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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 217

Text

JANET: DAS GEFÜHL DER PERSÖNLICHKEIT.

verwechselt wurden; ebenso — und das ist
eine unserer wichtigsten Entdeckungen —
sagt er, sich an Maine de Biran wendend,
»haben Sie zwei Dinge unterschieden: das
bewusste Ich und die Seelensubstanz, die
man bis auf Ihre Zeit miteinander ver-
wechselt hatte, weil es üblich war, beide
mit dem Namen Ich zu bezeichnen. Das
bewusste Ich ist gewiss nicht die Substanz,
sondern eine Form der Substanz der Seele,
das habe ich stets darunter verstanden,
wenn ich sie ein Phänomen nannte.« *
Dieselbe Ansicht wird man leicht bei
vielen Autoren finden. Die religiösen
Schriftsteller denken manchmal ebenso,
und der Abbé de Broglie** findet es
unklug, die Seele mit der wahrnehmbaren
Persönlichkeit zu verwechseln, weil sie
dann denselben Verdunklungen unter-
worfen wäre. Das ist die erste Schluss-
folgerung der Studien über die Persön-
lichkeit; es ist die Schlussfolgerung einer
ersten historischen Periode und gleich-
zeitig die erste Bedingung einer Experi-
mentalstudie. Nehmen wir also als be-
stimmt an, dass unsere Studien über die
Persönlichkeit das Princip des Denkens
in keiner Weise berühren.

II.

Nach dieser ersten Periode, das heißt
ungefähr zu Beginn unseres Jahrhunderts,
beginnt das psychologische Studium der
Persönlichkeit. Man wird sich vielleicht
wundern, dass ich die in Rede stehenden
Studien so weit zurückdatiere. Vielleicht
theilt der Leser die naive Illusion, zu
glauben, dass unsere Zeit alles erfunden
habe. Die Psychologie sollte erst mit dem
Registrierapparat und den chronometrischen
Uhren erfunden sein. Das ist nicht ganz
meine Ansicht, ich will es gleich jetzt sagen,
denn ich habe in diesem Punkte sehr
zurückgebliebene Ansichten. Ich glaube
nicht, dass man auf einen Schlag die
Arbeiten von Maine de Biran, Jouffroy,
Mill, Spencer und Taine unterdrücken darf.
Sie haben ihre Arbeiten nicht in derselben

Weise wie wir geschrieben, doch sie
haben wunderbar beobachtet; sie haben
eine Menge von Dingen begriffen, und
wir wären in schöner Verlegenheit, wenn
wir sie entbehren oder ihr Wirken aufs neue
beginnen sollten. Man wiederholt oft, dass
man die Psychologie in zwei Theile
scheiden muss, in zwei Beweisstücke
meiner Ansicht nach; es gibt nur zwei
Psychologien, eine schlechte und eine
gute, und die gute wird überall in der-
selben Weise betrieben, indem man alle
Kenntnisse, welcher Art sie auch seien
und woher sie auch kommen, über die so
dunklen Erscheinungen des Denkens ver-
einigt.

Erinnern wir also kurz an die Periode
der psychologischen Arbeiten über die Per-
sönlichkeit und die erzielten Resultate.
Eine Gruppe von Philosophen, die man
vorzugsweise mit dem Namen Sensualisten
bezeichnet, scheint mir mit Vorliebe einen
Theil des Problems zu studieren. Sie be-
trachten die Persönlichkeit als ein Ganzes,
als eine Construction, und zählen die
Materialien, die Elemente auf, mit denen
dieselbe hergestellt ist. Stuart Mill reagiert
energisch gegen den eigenthümlichen Irr-
thum, den wir bei David Hume festge-
stellt haben; er constatiert ein gemein-
sames Band, das die Kette unserer Ge-
fühle vereinigt, ein gemeinsames, ein
permanentes Element.*** Doch er besteht
nicht auf der Natur dieses Bandes, er zählt
vielmehr die Elemente auf. Dieses Band
vereinigt die Gefühle, die Sensationen, und
zwar die vergangenen, gegenwärtigen oder
auch nur einfach möglichen. Er hebt
diesen wichtigen Punkt hervor, dass die
Sensationen nicht ganz in die Persönlich-
keit eindringen; ein Theil der Sensation
dient dazu, die Objecte zu bilden, der
andere formt das Subject, insofern er sich
an die Kette der anderen Bewusstseins-
zustände anschließt. Alex. Bein kommt
zu diesem von Stuart Mill aufgestellten
Problem zurück: Welches ist der Theil der
Sensation, den man als ein Element der
Person betrachten muss, während der
andere Theil nur ein Element des Ob-

* Philosophie der beiden Ampères, 2. Ausgabe, 305.

** de Broglie, Positivismus und Experimentalwissenschaft, I, 272.

*** Stuart Mill, Philosophie Hamiltons.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 217, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0217.html)