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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 226

Text

EMERSON: AUFZEICHNUNGEN.

das ein Geschöpf, wie John M. Forbes her-
vorbringen kann Als ich fortgieng,
sagte ich zu mir selbst: »Wie wenig ahnt
dieser Mensch mit seiner Sympathie für
die Menschen, mit seiner Hochachtung
für Literaten und Leute der Wissenschaft,
wie unwahrscheinlich es ist, dass er je
einem Menschen begegne, der ihm über-
legen ist.«

1851. Ich sah einen Knaben auf der
Canader Haide eine alte, verbogene, zinnerne
Milchkanne, die am Wegrand rostete, auf-
klauben, an die Spitze eines Stockes
hängen und dann drehen, so dass sie
die feinsten, schönsten erdenkbaren Curven
beschrieb.

Ich glaube manchmal, dass mein Mangel
an musikalischem Gehör mir durch die
Augen ersetzt wird: was andere hören,
das sehe ich. All die sanften, klagenden,
munteren oder romantischen Stimmungen,
die entsprechende Melodien in ihnen
erwecken, finde ich im Teppich des Waldes,
im Bande des Teiches, im Schatten eines
Haines von Schierlings-Tannen oder in der
unendlichen Mannigfaltigkeit und dem
raschen Tanz der Baumwipfel, wenn ich
an ihnen vorübereile.

1842. Ein Mensch kann sich nicht
durch selbstquälerische Regimes Gewalt
anthun und weiterbringen, nicht durch
Kartoffel und Wasser, nicht durch gewalt-
same Passivitäten, durch Eides- und
Steuerverweigerung, nicht, wenn er sich
einsperren lässt oder einem andern seine
Ernte raubt — das sind keine Wege zur
Freiheit, nein, auch nicht, wenn er seine
Schulden in Geld zahlt — nur durch
Gehorsam gegen seinen eigenen Geist, nur
durch die freieste Activität auf deren
Gebiet und in der Weise, die ihm eigen
ist, nur so scheint ein Engel zu erstehen
und ihn bei der Hand aus allen Gefäng-
nissen zu führen.

1846. Welch eine Entdeckung, die
ich eines Tages machte; dass je mehr
ich ausgab, ich umsomehr wuchs; dass es
ebenso leicht war, einen großen Platz ein-
zunehmen und viel zu thun, als einen kleinen
und wenig zu thun; und dass in dem
Winter, in dem ich all meine Resultate den
Hörern gab, ich voll neuer Gedanken ward.

— (Verschiedenen Datums.) Eure Arbeit
gewinnt durch jedes »Sehr«, das ihr aus-
streichen könnt.

Keine unterstrichenen Worte! Schreibt
so, dass die Worte von selbst unterstrichen
scheinen! — Hütet euch vor den Worten
»intensiv« und »außerordentlich«; nur
sehr wenigen Leuten kommt im ganzen
Leben eine Gelegenheit für das Wort
»intensiv«. — Gebraucht das kräftige
sächsische Wort anstatt des pedantischen
latinisierten.

— Unser Ziel in unseren Schriften
sollte sein: das Tageslicht durch sie
scheinen zu lassen. Es ist ein großer
Unterschied zwischen gedrängtem und
elliptischem Stil. Der concise Schriftsteller
hat noch immer weiten Spielraum und
Wahl in den Ausdrücken und oft selbst
scherzhafte Stimmungen zwischen gewal-
tigen Worten. Seine Sätze müssen nicht un-
angenehm zusammengepresst sein, gerade
wie in einem menschlichen Antlitz, wo auf
einem Platz von wenig Zollen Raum ist
für Herrschaft und Liebe, Scherz und
Weisheit und selbst für den Ausdruck
ungeheurer Weiten.

Ich hasse alles Anschwellen der Bücher;
nicht Mazzini selbst, nicht Cranch, kaum
Browning selbst könnte mich dazu be-
wegen, einen Appendix von einer Zeile
zu schreiben. Kürzer! Kürzer! — Und
wozu eine Vorrede? Wenn acht Seiten
Platz ist, so lasst sie in herrlichem Weiß;
nein, nein, keine Vorreden — ich will
keine unnöthige Silbe niederschreiben.

1839. Reim, aber keine klingenden
Reime, sondern großartige Pindar’sche
Schläge, fest wie das Stampfen eines
Pferdes. Reim, der sich selbst als Kunst
beweist, der Schlag von Domglocken.
Reim, der alle Prosa und Banalität auf-
scheucht mit dem Schlag einer Kanonen-
kugel. Reim, der ins Chaos und in die
alte Nacht hinaus einen leuchtenden Bau
aufführt, der das Unüberschreitbare über-
brückt und laut allen Kindern des Morgens
zuruft, dass die Schöpfung neu beginnt.
Ich wollte, ich könnte solche Reime finden,
die keinen Zwang, sondern im Gegentheil
die wildeste Freiheit empfinden lassen.

Für jeden Gedanken existiert seine
eigene Melodie und sein Reim, obgleich
die ungeheuere Wahrscheinlichkeit dagegen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 226, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0226.html)