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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 227

Text

BRYK: DIE MUSIK UND DIE INSCENIERUNG.

spricht, dass wir ihn finden und nur das
Genie die Beschwörungsformel recht sagen
kann.

Der Vers ist kein Fahrzeug. Der Vers
muss lebendig und von seinem Inhalt
untrennbar sein, so wie des Menschen
Seele seinen Leib inspiriert und leitet.

— Man kann die natürlichen Dinge nicht
außer ihrem Zusammenhang erkennen;
sie sind Worte eines Satzes: wenn ihre
rechte Ordnung gefunden ist, kann der
Dichter ihren göttlichen Sinn geradesogut
lesen, als ob er eine Bibel vor sich hätte.

— Chlodwigs Experiment scheint mir
von centraler Bedeutung. Er streute Sand

auf Glasplatten und erschütterte dann die
Gläser mit melodischen Accorden, und der
Sand gestaltete sich zu symmetrischen
Figuren. Schlug er Discorde, so flog der
Sand gestaltlos auseinander. Also scheint
es, dass Orpheus keine Fabel ist! Ihr
müsst nur singen, und die Felsen werden
zu Krystallen; singt, und die Pflanze
wird sich organisch bauen; singt, und das
Lebende wird geboren!

— Ein Gedicht ist ein neues Werk der
Natur, wie ein Mensch es ist.

Es muss neu sein, wie der Schaum
und alt wie der Fels.

DIE MUSIK UND DIE INSCENIERUNG.
Von OTTO BRYK (Wien).
I.
DIE MUSIK UND DIE INSCENIE-
RUNG.*

Vor beiläufig drei Jahren hat
Adolphe Appia in Paris die heute
allgemein übliche Darstellung des
Nibelungen-Ringes einer gründlichen
Revision unterzogen und in einer Mo-
nographie die Gründe für seine Aus-
stellungen entwickelt. Heute ist man
trotz des steigenden Wagner-Rummels,
trotz »Oper und Drama« noch immer
nicht so weit, die Tragweite dieser
Boden-Untersuchung zu würdigen. Noch
immer lodert das bengalische Feuer
um des Speeres Spitze, der gespenster-
grüne Schein um Erda; im blauen
Mantel tragiert Wotan und die Bretter
speien Pathos, als handle es sich um
Schiller. Von der Grand opéra sind
wir befreit, und das Gesammt-Kunst-
werk droht wieder Oper zu werden.

Man wird es schließlich dem lieben
Publicum nicht verdenken, wenn es
durchaus sein Spectakelstück haben
will; aber man könnte doch erwarten,

dass ernste Bühnen von den Resul-
taten der Forschung dann und wann
Notiz nähmen. Vorderhand würde man
sich übrigens damit abfinden, das Ton-
drama den Costümeschneidern und
Decorationsmalern zu entwinden, um
auf diese Weise für eine spätere Neu-
gestaltung zunächst den Boden zu
ebnen.

Worauf sich diese Reform zu be-
ziehen hat, ist von Appia dargethan
worden. Er hat die ästhetischen und
die technischen Bedingungen des Wort-
tondramas untersucht und mit exacter
Genauigkeit festgelegt. Er geht von
nothwendigen formal-ästhetischen Prin-
cipien aus, mit Wagner zusammen,
und schreitet hinsichtlich der Vertiefung
der Inscenierung über ihn hinaus. Er
untersucht analytisch den Begriff des
Worttondramas, es nicht als bloße
Copie thatsächlicher Ereignisse, sondern
als eine Projection der Wirklichkeit in
ein durch eine andere Art der Causalität
bestimmtes Gebiet fassend, woraus folgt,
dass die theilnehmenden Ausdrucksmittel
eine entsprechende Modification erfahren
müssen.

* Von A. Appia (Paris).

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 227, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0227.html)