Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 228

Text

BRYK: DIE MUSIK UND DIE INSCENIERUNG.

Eigentlich gilt diese Cardinalforde-
rung Appias, die sinnlichen Aus-
drucksmittel so spärlich als möglich
zur Inscenierung heranzuziehen, schon
für das classische Drama; im Wort-
tondrama potenziert sich diese Noth-
wendigkeit noch dadurch, dass die
Musik in ihrer psychischen Unmittelbar-
keit das Caricaturale einer überladenen
und unruhigen Theatralik schonungslos
aufdecken muss. Ist es nicht höchst
seltsam, dass ein heutiges Publicum
(von »Kritikern und Laien«) zu einer
möglichst scenischen Wirkung hin-
drängt, während schon das antike
Theater oder die Darstellungen naiver
Völker nie in den Fehler verfallen,
symbolische Vorgänge durch einfache
Addition von Sinneseindrücken zu Reali-
täten steigern zu wollen? Dies ist aber
der Hauptmangel aller gegenwärtigen
Aufführungen, der psychologisch zurück-
zuführen ist auf eine Verwechslung von
Realismus und Realität der Erschei-
nungen.

Mit diesen Bemerkungen soll nun
keineswegs gesagt sein, dass der Scene
und der Technik der Inscenierung von nun
an keine nennenswerte Bedeutung mehr
zukommt. Ganz im Gegensatze hiezu
spricht Appia der Inscenierung eine
viel höhere Bedeutung zu, wodurch
diese erst befähigt und berechtigt
wird, an dem Gesammtbilde des Werkes
thatsächlich zu participieren; aber —
um es nur noch einmal zu sagen —:
parallelistisch zur Musik, nicht ihr
entgegenwirkend. Die Ornamentik der
allerprimitivsten Culturstufe setzt wohl
gerne ein Thier neben oder über ein
anderes, ohne sich über die ästhetische
Lösung einer organischen Verbindung
dieser beiden Elemente sonderlich zu
echauffieren. Wir sollen von nun an
davor bewahrt werden, zwei einander
so heterogene Elemente, wie die Trans-
cendentalkraft der Musik und die
Associationen der Scene, einfach

übereinander zu bauen und derart
zu vermauern.

Schließlich handelt es sich um
praktische Reformvorschläge. Jede, von
ehrlichen Prämissen aus entwickelte, in
letzter Linie der fruchtbringenden An-
schauung entstammende Theorie wird
sich leicht auch auf die Complexität
der Praxis anwenden lassen. Und so
wird man mit Erstaunen wahrnehmen,
mit welch großer bühnentechnischer
Kenntnis und liebevoller Mikrologie
Appia seine Thesen einzeln in die
Praxis eingeführt wissen will. Eine
Aufzählung all dieser Vorschläge müsste
zu weit führen. Sie betreffen das
Scenarium, die Darstellung, die Deco-
ration und in erster Linie die Be-
leuchtung. In wenigen Worten: Unter-
drückung der rein analytischen
Bestimmungsmerkmale, die den Begriff
angeben, und Betonung des Tonalen,
das den Empfindungszustand betrifft.*

Die vermittelnde Rolle für diese Orga-
nisierung des Inhomogenen spielt — wie
in der Natur — das Licht. Aber nicht
das Licht der Decoration, des Effectcs,
der Rampe, sondern ein Licht, welches
in engster tonaler Verwandtschaft
steht mit der Dynamik, also mit dem
musikalischen und psychischen Rhyth-
mus. Wagner selbst hat so oft darauf
aufmerksam gemacht, dass sich die
Handlung zur begleitenden Musik
verhalte wie das Symbol zum Wesen.
Ich möchte hinzufügen: oder wie die
Außenwelt zum Bewusstsein, wodurch
dem Lichte eine Function zuerkannt
wird, die seinen Wert für die Inscenie-
rung klarer erkennen lässt und der
bald näher betrachtet werden soll.
Übrigens hat Appia, um seine An-
sichten zu stützen und gleichzeitig
die praktische Durchführbarkeit seiner
Gedanken nachzuweisen, seinem Werke
einige Tafeln beigefügt, welche zunächst
als Reformierungsversuche betrachtet
werden sollen, denen aber auch unab-

* »Die Malerei muss — wenn auch nicht thatsächlich, so doch dem Anscheine nach
auf ihre Vorherrschaft verzichten. Die Beleuchtung wird dem Rechnung
tragen, indem sie sich eines großen Theiles ihrer bisherigen Verpflichtungen der Malerei
gegenüber entledigt und dafür der Entwicklung und Vervollkommnung ihrer Apparate um ihrer
eigenen Wirkungs- und Ausdrucksfähigkeit willen die allergrößte Sorgfalt widmet «

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 228, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0228.html)