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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 230

Text

BRYK: DIE MUSIK UND DIE INSCENIERUNG.

Licht selbst, ebenso wie der Schall,
auch nur Erscheinung, dadurch aber,
dass beide gleichzeitig unabweisbare
Wahrnehmbarkeits-Bedingungen sind,
von viel höherer Ordnung und infolge-
dessen künstlerisches Compositions-
Element
.

Das Worttondrama benöthigt, um
fassbar zu werden, einer vermitteln-
den Einheit, welche den Parallelismus
in der musikalischen und scenischen
Folge entschleiert. Wie isolierte Licht-
quellen, deren Intensität von der domi-
nierenden Musik abhängt, dies zu
leisten vermögen, lässt sich von Jedem,
der ein wenig Verständnis für Ton-
werte vom Haus aus mitbringt, leicht
begreifen. Hinsichtlich der decorativen
Composition muss beachtet werden,
dass die Darstellung der Handlungen
durch lebende, sprechende, singende
Menschen das Äußerste ist, was das
transcendentale Kunstwerk noch ge-
stattet. Die Forderung nach dem bunten
Coulissenzauber ist, wo sie auch bei
feiner gearteten Zuhörern auftritt, als
ein associativ gebundener Rest zu be-
trachten. — Übrigens ist die ganze
Theorie dieser gebundenen Empfindungs-
werte (d. h. das synthetische Aufheben
in einer sicheren Einheit) schon vor
Appia klar in diesen Blättern ent-
wickelt worden, aus welchem Grunde
diese Erörterungen nur als Commen-
tarien dieses Ideencentrums zu be-
trachten sind.

Farbe verhält sich zum absoluten
Licht nicht bloß wie Subjectives zum

Objectiven, sondern vielmehr wie
Qualitatives zum Quantitativen. Farbe
hat diese oder jene Schwingungszahl,
Licht ist Schwingungszahl schlechthin,
Ätherschwingung an sich. Es hat lange
gedauert, bis die bildende Kunst diesen
reinen Standpunkt erreicht hatte. Einen
höheren ideellen Concentrationsgrad be-
zeichnete schon der Vorstoß der Prä-
raphaëliten und Nazarener, die in der
Vertiefung der Zeichnung eine Wir-
kung anstreben, welche andererseits
durch die Farbe an sich mit Umgehung
der Linie von den Pointillisten, den
Impressionisten und Luministen un-
serer Tage gesucht wird. Die höchste
Form, die dritte und wahrschein-
lich letzte Entwicklungsstufe wird der-
art durch eine Kunstform erreicht,
welche das Auszudrückende weder
durch Farbenflecke, noch durch Linien-
reinheit, sondern durch das Verhalten
des Lichtes selbst andeutet. Eine der-
artige Ausdrucksform ist allerdings be-
fähigt, im ideellen Worttondrama als
ergänzendes Inscenierungsmittel con-
stitutiv aufzutreten; da sie eben, gleich
der Musik reine und vollkommene Ob-
jectivität ermöglichend, von dem aus-
geht, was Jakob Boehme das »Cen-
trum der Natur« nennt.

Alle diese Thesen sind unwider-
leglich richtig und geben die Grundlage
für alle Möglichkeiten der Entwicklung
der bildenden wie der Bühnenkunst:
und die Versuche einer unsachlichen
Pseudokritik, sie todtzuschweigen,
werden daran nichts ändern.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 230, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0230.html)