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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 234

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BLEIBTREU: DIALOG ÜBER ESOTERISCHEN BUDDHISMUS.

— Gewiss. Gibt es ein absolutes
radicales Böse? Nein. Alles Irdische ist
relativ, alles nur Verhältnisgröße, auch
das moralisch Gute und Böse. Oha! Dieser
Satz wirft die ganze Karma-Lehre um!!

— Schnell fertig ist die Jugend mit
dem Wort! Ein »radical absolut Böses«
im All gibt es naturgemäß nicht, weil das
Dunkel mit dem Licht harmonisch zu-
sammenhängt, und ebenso naturgemäß
wird auf die Dauer und am Ende das
Böse stets das Gute schaffen, nach Goethes
occultem Vers. Allein »das Böse« als
solches ist im All kräftig genug vorhanden,
derart, dass nach occulter Anschauung
die als »Elementals« und »Dämonen«
gedachten bösen Principien sogar den
Menschen selbst versuchen und heimsuchen
können. Sie haben hier übrigens eine ganz
klare Definition von Gut und Böse: Gut
ist alles, was verbindend, böse alles, was
auflösend und zerstörend wirkt. Nun führt
aber der passive Egoismus — Ideal- und
Lieblosigkeit, praktischer Materialismus —
unwillkürlich zum activen, zum Ver-
brechen
, mag letzteres auch nicht dem
üblichen Criminalcodex unterfallen, wie
unsere rücksichtslosen Ausbeuterkniffe,
Kasteninteressen, staatlichen und kirch-
lichen Terrorisierungen des Nebenmenschen.
Dass die natürliche Folge dieser indivi-
dualistischen Lebenshaltung »Jeder für sich«
eine innere Auflösung der Gesellschaft und
spätere revolutionäre Zerstörung sei, ist
sicher. Das Gleiche aber wird im gesammten
Weltgebiet als Maßstab zur Erkennung
der Bethätigung von Gut und Böse dienen
können. Und es ergibt sich daraus logisch,
dass »Sittlichkeit« und »Zweckmäßigkeit«
stets zusammenfallen. Der Egoismus ist
unsittlich, weil unzweckmäßig, und un-
zweckmäßig, weil unsittlich; der Altruis-
mus sittlich, weil zweckmäßig, zweck-
mäßig, weil sittlich. Würde diese Wahr-
heit klar erkannt, so würden mit »Gut«
und »Böse« auch alle äußeren Lebens-
räthsel schwinden und die Menschheit
längst in ein neues besseres Manvantara
eingemündet sein. Weil aber der Schleier
der Maja die Wahrheit für Unerleuchtete
(Erblindete und seelisch Blindgeborene)
verhüllt, so bleibt obige Definition von
Gut und Böse streng bestehen und keines-
wegs »relativ«. Relativ sind vielmehr nur

die Begleitumstände und Motivierungen
für den Ursprung der guten und bösen
Handlung im Thäter; doch auch hier gilt
wieder der gleiche bindende Maßstab des
Altruismus und Egoismus. Wenn jemand
aus dem Überschuss ergaunerter oder
sonstwie gewonnener Reichthümer eine
pomphafte öffentliche Wohlthat stiftet, so
bleibt die Handlung an sich »gut«, weil
für Andere förderlich, kommt aber dem Ur-
heber ethisch nicht zugute, weil aus Prahlerei
oder Berechnung hervorgegangen. Wenn
jemand für seine hungernde Familie in Ver-
zweiflung stiehlt oder einen Tyrannen er-
mordet, so wird ihm die an sich »böse«
Handlung nicht schwer angerechnet, weil-
nicht aus gemeiner Ich-Sucht entsprungen.
Gerade weil die Ursachen myriadenfach
verschieden sind, müssen wir für sie alle eine
tiefere Ursache und zu ihrer Beurtheilung
eine höhere Ethik suchen, als die ordinäre
Buchstabenmoral, und wo Ihr Leichtsinn
ein Umwerfen der Karma-Lehre sieht, steckt
gerade ihre Bekräftigung. Denn wenn
diese Relativität, nicht der Wirkungen,
sondern der Ursachen, nur ein Ge-
webe von Zufälligkeiten vorstellte und die
relative Ungleichheit der Glücksbedin-
gungen desgleichen, so wäre freilich jede
Gerechtigkeit des Weltlaufes unmöglich,
die »sittliche Weltordnung« nicht mehr
zu retten, also überhaupt keine Ordnung
mehr vorhanden, die — siehe oben —
ohne Ausgleich und Abwägen der Gerech-
tigkeit nicht denkbar ist. Im großen aber
gesteht ja der Materialismus die vollkom-
menste Ordnung zu — und was für’s
Ganze, gilt auch für die Theile, also die
Menschengeschichte und das Einzelleben.
Und auch hier dämmert selbst Voreinge-
nommenen mehrfach eine Ahnung höherer
Gerechtigkeit, die hinter den Dingen stehe,
auf. Die sonstigen Religionen aber könnten
über den Widerspruch der äußeren Un-
gerechtigkeit des Weltlaufes zur »Gerech-
tigkeit Gottes« nie hinwegkommen, es sei
denn mit der ärmlichen Ausrede, dass
Gott den Gerechten diesseits plage, um
ihn jenseits zu entschädigen — eine ver-
zwickte Procedur ohne jeden absehbaren
Zweck, sintemal Leiden meist nicht bessert,
sondern verbittert, abgesehen von der
unvernünftigen Unnöthigkeit dieses Dies-
seits-Umweges und der logischen Unsinnig-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 234, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0234.html)