Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 237

Text

BLEIBTREU: DIALOG ÜBER ESOTERISCHEN BUDDHISMUS.

ich zum letztenmal, nicht »Schuld« und
»Zurechnungsfähigkeit« in banal »mora-
lischem« Sinne einzuschmuggeln. Das ist
wissentliche jesuitische Falschmünzerei,
nachdem bis zur Erschöpfung deduciert ist,
dass es sich nur um einen gleichsam rein
ökonomischen Process der Seelenwirtschaft
handelt, um allmähliches, rastloses Weg-
tilgen einer Schuldhypothek, die von den
Urahnen überkommen war und deren
langsame Abtragung das transcendente
Ego überwacht, bis die Karma-Ich-Schuld
erlischt und das All-Gut nun völlig frei
den letzten Erben anheimfällt.

— Ach All-Gut, unvorstellbares Nirwana
— na, komm’ doch heraus, Maus! Es ist
ja der »Himmel« für brave Kinder!

— Wer nach all meinen Darlegungen
zu solchem Schlusswitz gelangt, ist frei-
lich unbekehrbar — und keine Darlegung
des Übersinnlichen kann den Sinnlichen
überzeugen. Das letzte Geheimnis des
Weltseins entzieht sich den Formen der
Endlichkeit, zu welchen auch Sprache und
begriffliches Denken gehören, da, wie
Buddha betont, »kein in der Kette der
Ursächlichkeit erfolgendes Denken das ur-
sachlose Ding an sich erfassen kann«.

— Sehr wohl! Und doch maßen Sie
sich an, Karma und Nirwana zu erfassen?

— Wieder solch ein Lufthieb schaden-
froh falscher Dialektik! Karma und Nirwana
sind nicht das Absolute, an sich Seiende,
letzter zureichender Grund, sondern nur
Theil-Erscheinungen desselben — letzteres
ein Stimmungszustand, ersteres eine Mani-
festation und ein Attribut, ja eigentlich
nur ein Diener des Absoluten. Denn auch
die Nothwendigkeit (Karma) ist an Ursäch-
lichkeit gebunden, kann daher vom ewig
Ursachlosen wohl ausgehen, sich von ihm
ableiten, doch nicht mit ihm identisch
sein. So thront in der germanischen Mythe
immer noch Allvadur segnend über der
Götterdämmerung, wenn die Schicksals-
Norne längst ihren Spruch erfüllte. Der
Buddhismus beschränkt sich also, im
Gegensatz zu den naiv-kindlichen anderen
Religionen, nur auf den Vorhof Gottes,
den selbst zu erfassen er verzichtet.
Er verfährt hierbei aber nicht deductiv
und phantasiert ins Blaue, wie sonstige
Religionen und Philosophien, sondern fußt
inductiv auf dem einzig sicheren Boden,

dem einzig uns absolut Bekannten: unserer
eigenen Natur. Steige nur in die Tiefen
deiner Vernunft und du wirst den Gott
des Karma von selber finden; steige in die
Tiefe des Gemüthes, und der Gott des
Nirwana entdeckt sich dir! Denn der Zu-
stand einer Seelenausweitung ins All bis
zum Vergessen des Ich ist schon von
Vielen in gesegneten Augenblicken oder
in dauernder Erhebung als wirkliche That-
sache empfunden worden, ohne irgendwas
von Buddhismus und Nirwana zu wissen.
Wir hörten ja schon den classischen Er-
lösungsruf Byrons: »Ich lebe nicht in mir,
sondern werde ein Theil aller Dinge.« Das
Nirwana ist also keine phraseologische
Fiction, sondern ein nothwendiges
Correlat
des höchstgesteigerten Seelen-
lebens, und von Allen, die seiner, wenn
auch nur schwach und vorübergehend,
theilhaft wurden, wird bezeugt, dass dieser
von Buddha als wahre und einzige Selig-
keit gepriesene Zustand thatsächlich das
menschliche Glücks-Sehnen voll erfülle.
Der Frieden Gottes, welcher höher ist,
denn alle Vernunft, ist kein leerer Wahn,
sondern gilt jedem, der auch nur einmal
die erste oder zweite »Schauung« — um
in Buddhas Terminologie zu reden —
verspürt hat, als köstlichstes Gut, neben
dem selbst die nobelste Befriedigung der
Eigenliebe (echter und verdienter Ruhm)
als fieberhafte Täuschung erscheint. Die
Karma-Wahrheit aber lebt so tief im
menschlichen Bewusstsein, dass sie selbst-
ständig zu allen Zeiten in Europa auf-
tauchte, mitten unter religiösen Phan-
tasmen, dass autodidaktische Bauern-
philosophen, ohne Spur buddhistischer An-
regung, oder von keiner philosophischen
Schulung angekränkelte Intelligenzen, wie
Moltke und Bismarck, sich zu ihr be-
kannten, dass der Rationalist Lessing die
»Seelenwanderung«, worüber ihm nur
ganz dunkle indische Tradition zu Ohren
kam, für seinen festen Glauben erklärte,
und endlich der größte außer-indische
Denker aller Zeiten, Giordano Bruno, aus
sich selbst heraus die buddhistische Philo-
sophie und insbesondere die ausgleichende
Gerechtigkeit des Karma (»Seelenwan-
delung«) als neues System aufbaute. Aus
ihm haben dann auch Spinoza und Goethe
geschöpft, welch letzteren man jedoch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 237, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0237.html)