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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 241

Text

VAN DE VELDE: VORSCHLÄGE ZUR KÜNSTLER. HEBUNG DER FRAUENTRACHT.

zugten Helfer, die Schneider, mit ihren
schmeichelnden und stupiden Rathschlägen
nehmend, und verlasse sie Verantwortungs-
beladen auf einem Boden, der ihr, sobald
sie ihn allein und ungeführt betritt, gänz-
lich fremdartig erscheinen muss. — Wenn
ich auch den Enthusiasmus vieler Frauen
hiefür nicht ernst nehmen kann, schätze
ich dennoch die allgemeineren Folgen
dieser Anregung, insofern sie manche
Frauen zu einer ernsthafteren Betrachtung
ihres Milieu und zu gewissen Vergleichen
veranlasst hat. Diese werden wohl das
Ziel erreichen, indem sie sich moralisch
vertiefen; sie werden trachten, ihre
Pflichten gegen sich selbst zu erfüllen
und die eigene Persönlichkeit dem Hause
zu geben, welches sie bisher der Schablone,
dem Geschmack und den Ansichten der
Mehrheit oder der interessierten Phantasie
der Lieferanten überließen.

Hat man das Wesen dieser ersten
Stufe erkannt, so wird es nicht schwer
halten, die beiden folgenden zu erreichen.
— Die Atmosphäre der Öffentlichkeit
(Straße) zwingt zu einer gewissen Be-
schränkung und Unterdrückung der persön-
lichen Manifestation; die Frauen werden
aus zwei verschiedenen, aber gleich unab-
weislichen Gründen erkennen, dass sie sich
für die Straße ungefähr ebenso anziehen
müssen, wie die anderen ihres Standes,
die sie auf der Straße treffen. Der erste
Grund dafür ist der, dass, wenn sie es
nicht thun, sie durch die Seltsamkeit
ihrer Toilette die nur zu indiscreten
Blicke und die nur zu frechen Betrach-
tungen der Menge auf sich gezogen
fühlen würden.

Der zweite Grund geht aus diesem
Entschlusse hervor. Sie sind durchdrungen
von der Nothwendigkeit, die Straße
anonym zu passieren. Die Straße ist
neutral, auf ihr bewegen sich Leute, die
da neutrale Dinge vollziehen, die ange-
sichts gleichartiger Dinge handeln. Die
Langeweile, das Lächeln und die Gesten
sind da dieselben, das gleiche Decor be-
herrscht uns da alle, und die unabweis-
liche Verpflichtung, sich diesem Decor
anzupassen, besteht für alle.

Die Männer haben diese Nothwendig-
keit gefühlt und haben sich ihr vor den
Damen unterworfen. Sollte ihr Charakter

fügsamer oder ihr Kunstgefühl geschulter
und ausgeprägter sein?

Sie tragen alle denselben oder fast
denselben Hut, denselben oder annähernd
denselben Überzieher, denselben oder fast
den gleichen Überrock darunter. Sie geben
sich in dieser Idee zufrieden, und es
wäre unrecht, wollten sie stolz darauf
werden. Wäre es nicht die Idee, dass sie
sich dieser eben geschilderten Atmosphäre
bewusst sind und infolgedessen sich der-
selben fügen und in dem Anblick dieser
Übereinstimmung der Kleidung einen
Genuss schöpfen, der ganz und gar nicht
die Hoffnung, die Kleidung bald zu ver-
bessern, hemmt.

Also da haben wir zwei gewonnene
Punkte, welche die Berechtigung meines
Vorschlages bekräftigen.

In der Häuslichkeit, zu Hause, muss
die Kleidung so individuell wie irgend
möglich sein, auf der Straße wird sie
ungefähr identisch mit der der Anderen.

Meine dritte Proposition wird als die
kühnste erscheinen. Ich schlage vor, dass
bei Feierlichkeiten, bei Ceremonien und
bei Festlichkeiten die Frauen eine Zwangs-
toilette tragen sollen, ebenso wie die
Männer, die diese Tradition niemals
gebrochen haben.

Man hat meinen Vorschlag sofort
bildlich genommen, diesen Vorschlag, der
nur deshalb so kühn ist, weil er noch
ganz unerwartet kommt und im Grunde
genommen die Frauen bloß auf die
Tradition zurückführt. Sofort schrieb man:
»Van de Velde hat soeben den weiblichen
Frack erfunden!« — Hier in Deutsch-
land sagt man: »Es würde langweilig
sein!« in Österreich: »Es würde preußisch
sein«.

Unter den Frauen verpflanzen die-
jenigen nicht den geringsten persönlichen
Ausdruck in irgendeine Gelegenheit des
Lebens, die sich über das Opfer, das sie
ihrer Individualität brächten, beklagten.
Und wirklich erklärten sich nur die-
jenigen befriedigt, die anderes haben, als
ihre Toiletten, um sich in der Welt
Geltung zu verschaffen und diese ahnen
mit mir die Schönheit der Feste, bei
welchen alle Frauen die gleichen Costume
tragen würden und die ungetrübte Feier-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 241, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0241.html)