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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 243

Text

AURIER: VINCENT VAN GOGH.

Schönheit erzeugt, so sehe ich nicht ein,
wer die Frauen hindern sollte, dieselben
Opfer zu bringen.

In der Ordnung von geistigen Dingen
machen wir uns in der Gesellschaft
Concessionen, und kein wohlerzogener
Mann, keine wohlerzogene Frau wird
daran denken, die Meinungen von wem
immer, der sich in derselben Gesellschaft
befindet, gewaltsam umzustoßen. Entsagen
wir durch diese Concession unserer Indi-
vidualität? Verhindert uns die Überein-
kunft im wahren Leben, gemäß unseren
Antrieben, unserer besonderen Moral und
unserem Ziel zu handeln?

Keineswegs; diese Concessionen machen
unsere Gesellschaften harmonisch und
reich an Würde. Dies geschieht nur durch
Eintreten des gewaltsamen Stoßes; sie

verlieren auf einer Seite mehr, als sie auf
der anderen hätten gewinnen können.

Ein Fest, das nicht nach den Gesetzen
gegenseitiger Übereinstimmung zwischen
all seinen Elementen geregelt ist, wird
niemals die Größe einer Feierlichkeit
erreichen; es bleibt eine einfache Ver-
einigung von Leuten, ohne dass ein
besonderer Rhythmus ihr Beisammensein
beherrscht, wie er die Bewegungen eines
Tanzes gliedert. Die Elemente, die solche
Vereinigungen bilden, stehen gleichgiltig
nebeneinander, ohne, wie Complementär-
farben, sich zu einem harmonischen Bilde
zusammenzuschließen, oder, wie die Theile
eines Ornaments, die sich gefügig der
Idee desselben unterordnen, zusammen-
gefasst zu werden.

VINCENT VAN GOGH.
Von G. ALBERT AURIER.

Und sieh’, da sangen plötzlich beim
Eintritt in das gemeine, schmutzige
Tohuwabohu der Straße und des häss-
lichen, wirklichen Lebens, zerstreut und
gegen meinen Willen in meiner Erinne-
rung diese Versstücke:

Berauschende Monotonie
Von Metall, Marmor und Wasser
Und alles, sogar das Schwarz
Schien gereinigt, hell und schimmernd.
Das Flüssige fasst seinen Ruhm
In dem krystallisierten Strahl
Und Katarakte hiengen blendend
Wie Vorhänge von Krystall
An den Mauern von Metall

Unter Himmeln, bald geschliffen im
Glanz von Saphiren oder Türkisen, bald
voll von — ich weiß nicht welchem —
infernalischen, heißen, tödtlichen, blind-
machenden Schwefel; unter Himmeln
gleich fließendem Metall und ge-

schmolzenen Krystallen, darin sich
manchmal strahlend heiße Sonnen-
scheiben ausstrecken; unter dem un-
aufhörlichen und furchtbaren Triefen
jedes nur möglichen Lichtes; in
schweren, flammenden, brennenden
Atmosphären, die von phantastischen
Glutbecken ausgehaucht scheinen, in
denen sich Gold und Diamanten und
seltsame Gemmen verflüchtigen würden
— das ist die beunruhigende, ver-
wirrende Darbreitung einer seltsamen
Natur, wahrhaftig wahr zugleich und
beinahe übernatürlich, einer aus-
schweifenden Natur, wo alles, Wesen
und Dinge, Schatten und Lichter,
Formen und Farben, sich bäumt, sich
aufrichtet im rasenden Willen, seinen
essentiellen und eigenen Gesang zu
heulen im intensivsten, allerwildesten,
höchsten Ton: Bäume, gewunden wie
Riesen im Kampf, mit der Bewegung

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 243, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0243.html)