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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 246

Text

AURIER: VINCENT VAN GOGH.

die unaufhörliche Notwendigkeit fühlt,
seine Ideen mit präcisen, wägbaren,
greifbaren Formen zu bekleiden, mit
kraftvoll fleischlichen und körperlichen
Hüllen. In fast allen seinen Leinwänden
ruht unter dieser körperlichen Hülle,
unter diesem sehr fleischlichen Fleisch,
der sehr materiellen Materie, für den
Geist, der ihn zu sehen weiß, ein
Gedanke, eine Idee, und diese Idee, die
wesentliche Grundlage des Werkes, ist
zugleich die wirkende und Endursache.
Welches auch immer der Wert der
strahlenden und schimmernden Farben-
und Linien-Symphonien für den Maler
sein mag, sie sind in seiner Arbeit nichts
als einfache Ausdrucksmittel, als ein-
fache Vorgänge der Symbolisation.
Wollte man es thatsächlich zurück-
weisen, in dieser naturalistischen Kunst
das Dasein dieser idealistischen Ten-
denzen zuzugeben, so bliebe ein großer
Theil des Werkes, das wir studieren,
sehr unverständlich.

Wie erklärte man zum Beispiel
den »Säemann«, diesen erhabenen und
beunruhigenden Säemann, diesen un-
geschlachten Bauer mit der rohen,
genialen Stirn, in etwas und entfernt
dem Künstler selber ähnelnd, dessen
Silhouette, Bewegung und Arbeit
Vincent van Gogh immer beschäftigt
haben und den er malte und so oft
immer wieder malte, bald unter röth-
lichen Sonnenuntergangshimmeln, bald
in dem Goldstaub glühender Mittage,
wenn man nicht an diese fixe Idee
denken will, die in seinem Gehirn
haust: von der gegenwärtigen Noth-
wendigkeit, dass ein Mann komme,
ein Messias, ein Säemann der Wahrheit,
der die Verkommenheit unserer Kunst
und vielleicht unserer blödsinnigen,
industrialistischen Gesellschaft rege-
neriere? Und dann diese besessene
Leidenschaft für die Sonnenscheibe,
die er goldglänzend zu machen liebt
in der Glut seiner Himmel, und zu
gleicher Zeit für diese andere Sonne,
für dieses Pflanzengestirn, die pracht-
volle Sonnenblume, die er unermüdlich
wiederholt, wie ein Monomane; wie
soll man es erklären, wenn man nicht
sein beständiges Eingenommensein von

einer vagen und glorreichen sonnen-
mythischen Allegorie zugeben will?

Vincent van Gogh ist in der That
nicht nur ein großer Maler, ein Enthu-
siast seiner Kunst, seiner Palette und der
Natur, er ist auch ein Träumer, ein
exaltierter Gläubiger, ein Verschlinger
schöner Utopien, von Ideen und
Träumen lebend.

Lange fand er seine Lust darin, eine
Erneuerung der Kunst auszudenken,
die durch eine Verpflanzung der Cultur
ermöglicht werden sollte: eine Kunst
der tropischen Regionen.

Die Völker gebieterisch Werke ver-
langend, die dem neubewohnten Milieu
entsprechen; die Maler sich einer bisher
unbekannten, furchtbar leuchtenden
Natur gegenüber sehend, sich endlich
die Ohnmacht der alten Schulkniffe
eingestehend und sich naiv auf die
Suche begebend nach einer aufrich-
tigen Übertragung all dieser neuen
Sensationen!

Wäre er nicht in der That, er, der
intensive und phantastische Colorist,
Gold- und Edelsteinmaler, viel mehr
als Guillaumet, der abgeschmackte
Fromentin und der schmutzige Gérôme,
der wahrhaft würdige Maler dieser
Länder des Glanzes, der blitzenden
Sonnen und der Farben, die blind
machen?

Dann, als Consequenz dieser Über-
zeugung, dass alles in der Kunst neu
angefangen werden muss, hatte und
liebte er lange Zeit die Idee, eine sehr
einfache, volksthümliche, gleichsam
kindliche Malerei zu entdecken, fähig,
die Bescheidenen zu bewegen, die nicht
klügeln, und fähig, von den Naivsten
der Armen im Geiste begriffen zu
werden. Die »Kindsfrau«, dieser
gigantische und geniale Bilderbogen
von Épinal, die er mit merkwürdigen
Varianten mehrmals wiederholt hat,
das Porträt des phlegmatischen und
unbeschreiblich jubilierenden »Post-
angestellten
«, die »Zugbrücke«, so
roh leuchtend und so wundervoll banal,
das treuherzige »Mädchen mit der
Rose
«, der »Zuave«, die »Pro-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 11, S. 246, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-11_n0246.html)