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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 13, S. 267

Text

DORIAN: DIE KANZEL DER HEILIGEN GUDULA.

weiterten Horizonten, den intuitiven
Vorstellungen des erhabenen Raubes
sich öffnend? Wer wagte den Stolz,
die Vorgefühle sicherer Siege zu nennen,
die die süßen Züge dieser Mutter
Astartes und des Antinous erhellen,
dieser unbezwinglichen Eroberin, un-
bezwungen, auf dem Weg zur Allein-
herrschaft über die Erde, die sie ein-
genommen hat, die sie schon als ihr
Eigen fühlt und die sie kühn dem Voll-
ender der hohen Gotteswerke streitig
macht?

Und mit ihrer ausgestreckten rechten
Hand scheint sie ihr Reich, das durch
die Jahrhunderte sich vor ihren Schritten
erhebt, zu bezeichnen und zu ergreifen
Mit einer unerhört stolzen Geste über-
mäßigen Triumphes zeigt sie, nimmt
sie ein, presst sie aus, während sie
mit der andern Hand — mit welcher
Tollheit der Leidenschaft, mit welcher
Liebesbeharrlichkeit des Verstehens und
des Besitzes! — den wunderbaren Apfel
fest umklammert, den Apfel der Herr-
schaft!

Unaussprechlich ist die Herausfor-
derung, kaiserlich, cynisch ist die glück-
liche und verächtliche Drohung, die
die Sterbliche gegen Den schleudert,
den der Tod verschont! Dieses Tod-
skelett, dessen Arm mit den hakigen
Fingern, einer Geierkralle ähnlich,
dessen hinterlistiger Arm, die Vorhänge
der Tribüne theilend, bereit zu sein
scheint, den lieblichen Kopf zu packen,
den lachenden Kopf mit den gleich
einer Aufruhrfahne gelösten Haar-
flechten.

Mit festem und munterem Fuß ver-
lässt Eva das eisige Paradies der
müßigen, unfruchtbaren und geizigen
Glückseligkeiten, um zu der wollust-
vollen und verwegenen Hölle der mensch-
lichen Ekstasen, des perversen Wissens,
der prophetischen Zeugungen zu gehen.

An ihrer Seite entfaltet der Pfau,
der König der freien Auserwählten der
Luft, den Regenbogen seines vielfarbigen
Schweifes, mit kostbaren Augen belegt;
der tönende Hahn, seinen carmesin-
rothen Kamm sträubend, lässt den
hellen Ruf seiner Kriegstrompete
schallen, und das vergnügte Eichhörn-
chen, beweglich und hübsch, mit dem
feinen Gesicht, beißt in eine Zedernuss,
mit einem raschen Dankblick zu Der,
deren Empörung die Ketten der all-
umfassenden, paradiesischen Sclaverei
gebrochen hat.

Und die ganze Natur scheint die
einverstandene Mitschuldige der Befrei-
erin zu sein, des freiwilligen Opfers,
das der Welt die Liebe gibt und durch
die Liebe die Erlösung erwirbt.

Denn wenn Eva die Sünde gefürchtet
hätte, wäre Gott nicht Mensch geworden,
geboren vom Weib, um seine erhabene
Befleckung abzuwaschen.

Auf dem Apfelbaum, zur Seite Adams,
der vor Frost schaudert, sitzend, öffnet
der lächerliche Papagai seinen dicken
Schnabel, um ohne Unterlass den künf-
tigen Jahrhunderten die Schmachworte
Adams zu wiederholen, des urtypischen
Lucifer mit den Feuerhörnern, mit der
ambrosianischen Sprache. Weiter unten
der obscöne, bucklige Affe, in schwacher
Haltung, der die düstere Erniedrigung
des Mannes spiegelt, seine egoistische
Traurigkeit nach der Freude, die grau-
same Vernichtung, die von Geschlecht
zu Geschlecht den Mann zum ewigen
seufzenden Sclaven und Märtyrer seiner
Wollüste machen wird.

Und all das, ich bezeuge es
ist in einem Gedicht aus altem Eichen-
holz erzählt, sehr eifrig und kundig ge-
schnitzt von dem geschickten und un-
endlich weisen Meister H. Verbruggen
zur höchsten Ehre der Kanzel der
heiligen Gudula.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 13, S. 267, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-13_n0267.html)