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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 13, S. 273

Text

KUHAUPT: SUGGESTION ALS PSYCHOLOGISCHES HAUPTMOMENT IN DER KUNST.

Herrschaft und im Bann der nach Reali-
sierung schmachtenden, neuschöpferischen
Idee. Der Zustand des Künstlers ist ein
traumartiger, solange die Idee noch nicht
in den Process der Verkörperung einge-
treten ist. Die Idee ist, wie beim Hypno-
tisierten die eingepflanzte Vorstellung,
monoideistisch und beherrscht das niedere
Geistesleben; die auto-suggestive neue
Macht beugt alles unter ihre Herrschaft.
Das ist aber auch nothwendig, weil jede
Concurrenz durch andere Gedanken von
geringerer Bedeutung die klare Ausprägung
und scharfe plastische Gestaltung der Idee
in einer störenden und gefährlichen Weise
beeinträchtigen würde. Der schaffende,
über seinen Gedankencomplexen stehende
Geist drängt alles Hindernde und das
Wachsthum Benachteiligende zurück zu
Gunsten der einen, in das concrete Dasein
strebenden Idee. Wie der Hypnotiseur in
den tiefsten Graden des Schlafens, also
in den somnambulen Zuständen, am inten-
sivsten auf die physiologischen Processe
des im hypnotischen Schlaf Befindlichen
einwirken kann, so ist auch die organi-
sierende und gestaltende Kraft der auto-
suggestiven künstlerischen Idee umso
größer, je mehr sie isoliert und Störungen
entzogen ist. Wie der Embryo im Mutter-
leibe, allen schädigenden äußeren Ein-
flüssen entzogen, sich gestaltet, so fordert
auch die künstlerische, nach Gestaltung
und Realisierung ringende Idee Ruhe und
Abgeschlossenheit. Der Geist schützt eben
seine nach plastischer Ausprägung stre-
benden Keim-Elemente, indem er sich zu
ihren Gunsten in einen dämmerartigen,
der Hypnose ähnlichen Zustand versetzt.
So sagte z. B. Mozart von sich: »Alles
das Finden und Machen geht in mir nur
wie in einem schönen, starken Traume
vor«. Es sei hier auch erinnert an den
Shakespeare’schen Ausspruch vom »holden
Wahnsinn, in dem des Dichters Auge
rollt«.

Das Verhältnis zwischen Hypnose,
Ekstase des Geschlechtsactes und dem
traumartigen Zustand des Dichters im
ersten Geburtsstadium der neuschöpfe-
rischen Idee ist somit ein eng verwandt-
schaftliches.

In der Hypnose ist es die in Auto-
Suggestion umgesetzte Fremd-Suggestion,

die als Monoideismus alle übrigen Vor-
stellungen und Gedankenbilder unter die
Schwelle des bewussten Tageslebens hinab-
drückt; im Geschlechtsact ist es der aller-
dings larvierte Zeugungsgedanke, der als
organisierendes Princip das geistige Ge-
sammtgefühl in einen Punkt und einen
Augenblick zusammenfließen lässt, um
das Keimplasma seelisch zu beeindrucken;
in dem geschilderten Zustand des Künst-
lers ist es eine durch die Kraft der neuen
Idee hervorgerufene Auto-Suggestion, die
das wache Tagesbewusstsein zu einem
traumartigen herabstimmt.

Jeder geistig Arbeitende erfährt von
diesem Zustande etwas, wenn er unter
der suggestiven Macht eines neuen Ein-
falles steht. Der Unterschied zwischen dem
Zustande des Künstlers und dem des
gewöhnlichen Sterblichen ist nur ein gra-
dueller, und der erstere entspricht etwa
den tieferen hypnotischen Schlafzuständen,
in denen der Hypnotisierte völlig im
Bann der suggerierten Vorstellung steht.
Spontane Ideen, plötzliche Eingebungen,
wie sie der Künstler empfängt, sind auch
in ihrer Wirkung plötzlich und haben
eine stark isolierende, andere Gedanken
zurückdrängende Kraft.

Je plötzlicher und je markanter eine
Idee im Geiste auftaucht, umso stürmi-
scher strebt sie auch nach Realisierung
— gemäß dem Gesetz: »Jeder psycho-
logische Effect hat die Neigung, sich in
Handlung umzusetzen«. So wissen wir,
dass Franz Schubert, einer plötzlichen
Eingebung folgend, eines seiner besten
Lieder in einem Wirtshaus, wo es sehr
lebhaft hergieng, auf einen Speisezettel in
wenigen Minuten niederschrieb.

Von anderen Künstlern ist bekannt,
dass sie mitten in der Nacht aufstanden
und arbeiteten, da sie einer Suggestion,
die sie zum Schaffen drängte, nicht wider-
stehen konnten.

Es scheint nun aber, dass nur das
wahrhaft Neue, nämlich das, was nicht
aus der receptiven, sondern aus der spon-
tanen Thätigkeit des Geistes hervorkommt,
jene eigenthümliche Wirkung, die Shakes-
peare als »holden Wahnsinn« bezeichnet
hat, hervorzurufen vermag. Also nur der
wahrhaft zeugende und schaffende, der
wahrhaft geniale Künstler kommt in jenen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 13, S. 273, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-13_n0273.html)