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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 13, S. 274

Text

KUHAUPT: SUGGESTION ALS PSYCHOLOGISCHES HAUPTMOMENT IN DER KUNST.

Zustand höherer Erhebung, der Ekstase,
der eine Begleit-Erscheinung bei allem
Erzeugen (ich erinnere an die Ekstase im
Zeugungsact) zu sein scheint.

Alles Neuschöpferische ist kein aus
der Erfahrung direct Hervorgegangenes,
kein von äußeren Objecten Abgezogenes,
sondern es ist ein wohl durch Erfahrung
und äußere Dinge ausgelöstes, aber sonst
von diesen unabhängiges, aus den Tiefen
des unbewussten Seelenlebens emporge-
tauchtes Urbild.

Damit diese auf dem Grunde der
Seele schlummernden Urbilder der Dinge,
die uns in gewissem Sinne an die plato-
nischen Ideen erinnern, in die Wirklich-
keit, in das Sein, in die Welt des Stoffes
hinaustreten können, bedarf der schöpfe-
rische, gestaltende Geist der Concentration,
der Sammlung und Zurückziehung in den
Punkt.

Das Bewusstseinsleben wird herab-
gestimmt und verdunkelt, damit die eine
neue Idee umso klarer und prägnanter,
umso lichter und heller sich abheben und
hervortreten kann. Die neue Idee steigt
wie aus dem Abgrund hervor und tritt in
den Geist plötzlich (wie die Sonne durch
dunkle Wolken bricht) hinein, um alsdann
das gesammte Gedankenleben (nachdem
die grelle, auto-suggestive, hypnotisierende
Wirkung aufgehört hat) allmählich zu
durchleuchten und zu erwärmen. Wie
die in der Hypnose eingepflanzten Vor-
stellungen sich allmählich physiologisch
realisieren und einen wiederherstellenden,
heilenden Einfluss auf die gestörten orga-
nischen Vorgänge ausüben, wie nach dem
Zeugungsact der Wachsthums- und Ent-
faltungsprocess im Mutterleibe beginnt,
so tritt auch mit dem Erwachen des
Künstlers aus seinem traumartigen Zustand
der intensive Drang nach Gestaltung und
sichtbarer Ausprägung des geistig Ge-
schauten machtvoll hervor; die noch
nebulose Idee will sich in eine Form
kleiden.

In derselben Weise aber, wie die neue
Idee durch ihre suggestive Kraft den
Künstler gewissermaßen hypnotisiert und
in ihren Bann zwingt, ebenso wird auch
der kunstsinnige Beschauer des hernach
vollendeten Kunstwerkes von der Macht
und Kraft jener Idee, die er nun in ihrer

realen Verkörperung vor sich sieht, erfasst
und in Fesseln geschlagen. Das, was der
Künstler empfand und erlebte, erlebt und
empfindet der Beschauer in schwächerem
Maße noch einmal.

Die alten Griechen nannten deshalb
den Zeus des Phidias ein leidstillendes
Zaubermittel. Die großartige Schönheit,
Ruhe und Erhabenheit dieses Kunstwerkes
hatte eine so starke, suggestive Wirkung,
dass sich die hohen Ideale des Künstlers
auch dem Beschauer mittheilten, dass ihn
das ergriff, was den Künstler ergriffen hatte.

Die Griechen sprachen von einem
Zaubermittel — ganz mit Recht, denn
Zauber ist bei den Alten in gewissem
Sinne das, was wir heute Hypnose nennen.
Zauber ist ein Fesseln, Festmachen,
Bannen, ein in fremden Willenskreis
Zwingen, ein Bestricken durch seelische
Mittel.

Ein Kunstwerk von hoher Schönheit
übt in der That einen Zauber auf uns
aus. Im wahren Kunstwerk wirkt das
verkörperte, in Raum und Zeit ausgegossene
Ur-Wahre auf uns. Der hohen Macht
dieses Ur-Wahren, das durch die Hülle
der sichtbaren Form und Gestalt hindurch-
bricht und hindurchscheint, kann sich der
Beschauer nicht entziehen, er muss sich
ihr willenlos beugen. Ich sage »willenlos«,
denn es spielt in der That die Verstandes-
reflexion und das Willensinteresse im
ästhetischen Kunstgenuss keine Rolle. Wie
die in der Hypnose wirkende Suggestion
sich ohne Willensinteresse realisiert, so
ist auch im ästhetischen Genuss der Wille
ausgeschaltet; die Wirkung ist hier wie
da eine unmittelbare.

Dies lässt uns erst erkennen, wie klar
und richtig der große Königsberger,
J. Kant, den ästhetischen Genuss analysiert
hat und wie treffend sein Urtheil über
das Schöne in der Kunst ist.

Kant sagt: »Schön nennen wir das-
jenige, was in uns ein reines und uninter-
essiertes Vergnügen erweckt. Das Schöne
ist weder Gegenstand einer theoretischen
Erkenntnis, noch eines praktischen Be-
gehrens, es ist lediglich ein Gegenstand
der Lust« »Das Vergnügen oder
die Lust, welche wir bei Betrachtung des
Schönen empfinden, ist gänzlich uninter-
essiert.« »Schön ist, was ohne Begriff

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 13, S. 274, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-13_n0274.html)