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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 282

Text

DAS WELTALL UND DAS INDIVIDUUM ().
Von LUDWIG KUHLENBECK (Jena).
VI.

Philosophie als Streben nach Wahr-
heit ist ein unausgesetzter Kampf gegen
Missverständnisse. Die Quelle aller Miss-
verständnisse ist das Wort, das nur ein
Zeichen des Gedankens ist und das daher,
weil es den Gedanken niemals unmittelbar
überträgt, je nach Verschiedenheit und
Vieldeutigkeit der Zeichensprache selbst
und ihrer Auffassung verschiedene Ge-
danken in den verschiedenen Gehirnen aus-
lösen kann. In einer Welt der Geister,
in der man sich durch unmittelbare
Gedankenübertragung verständigen könnte,
würde nicht nur die Heuchelei völlig,
sondern auch der gutgläubige Meinungs-
streit, der größtenteils nur Wortstreit
ist, zu mindestens neun Zehntheilen fort-
fallen. Dennoch hat diese Unvollkommen-
heit der Wortsprache als Nothwendigkeit
unseres sinnlichen Gedankenverkehrs viel-
leicht den guten Nebenerfolg, dass sie
uns selber nöthigt, durch das Bestreben,
unsere Zeichensprache zu vervollkommnen
und unsere Worte vor Missverständnissen zu
sichern, eine geistige Arbeit zu verrichten,
die wiederum unsere eigenen Gedanken
klärt und läutert. Wir sehen uns genöthigt,
zu definieren. Bei unseren, auf den Indi-
vidualismus gerichteten denkerischen Be-
trachtungen haben wir bislang auf jegliche
Nominaldefinition verzichtet, in der Über-
zeugung, dass eine sachliche Feststellung
des Gedankeninhaltes sich im Verlaufe
der Darlegungen von selbst ergeben müsse.
Wir konnten dies aber nur solange thun,
als wir nur jene Individualität im Auge
hatten, auf die, als eine menschliche, der
Leser jederzeit in sich selbst zurückblicken
konnte, um unsere Zeichensprache nicht
völlig zu missdeuten. Indem ich jetzt zum
erstenmale vom Ich zum Nicht-Ich über-
gehen will, wo nur noch die Analogie

den Ariadne-Faden im Labyrinth der Er-
scheinungen bildet, scheint mir ein wenig
Definition, so sehr ich den Schein logischer
Pedanterie scheue, unerlässlich.

Zunächst, was bedeutet eigentlich In-
dividuum? Auch der lateinisch Gebildete
wird nicht immer an den ursprünglichen
Sinn denken: »Das Untheilbare«. In wel-
chem Sinn untheilbar? Doch sicherlich
nicht im gedanklichen. Das Denken ist
wesentlich scheidende, d. h. unterschei-
dende Thätigkeit, es theilt, zerlegt auch
das Individuum. Wir zerlegen uns selbst,
beispielsweise in ein vorstellendes, fühlen-
des, wollendes Vermögen. Wir zergliedern
unsere ganze innere Welt in zahllose Ge-
danken-, Gefühls- und Wollenssysteme, und
jedes System, jeden Satz können wir
wieder mit unbarmherzigem psychologi-
schen Messer in Elemente auflösen. Denn
»haben wir die Theile in der Hand —
fehlt leider nur das geistige Band!« Dieses
Band können wir nicht zerlegen (vergl.
Aufsatz Nr. I, IV, 21), wir können es
nicht einmal sehen, es ist das Auge, das
sich selbst nicht sehen kann. Dieses Band,
dieser einheitliche Faden, auf den unser
ganzes Leben wie eine Perlenschnur von-
Erinnerungen sich aufreiht, nannten wir
unser Individuum, unser transcendentales
Subject, Monade, überhaupt mit Worten
nicht geizig und pedantisch.

Aber wenden wir uns zur Außenwelt!
Steht nicht hier dem von uns in uns
vorausgesetzten Untheilbaren ein unendlich
Theilbares gegenüber: die Materie, dieses
Object unbeschränkter physischer, chemi-
scher Analyse und neuer Zusammensetzung?
Offenbar haben wir in ihr den Begriff
einer realen Theilbarkeit, die wir der
rein begrifflichen entgegensetzen, entlehnt.
Nun aber behaupten wir: Auch die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 282, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-14_n0282.html)